Der Böse Blick des ‚Autoriums’. Zur Ambivalenz des Zuschauens in zeitgenössischer Tanz-Performance am Beispiel von Eva Meyer-Kellers DEATH IS CERTAIN | 2015
von Constanze Schellow
Ein Raum, in der Mitte zwei Tische. Einer voll mit pedantisch aufgereihten Gegenständen: Klebeband, Schnur, Teller, Papier, diverse Flaschen verschiedener Form und mutmaßlich verschiedenen Inhalts, eine Dose Sprühfarbe, Kirschen, Küchenkrepp, ein Hammer, ein Bügeleisen, ein Stromkabel, Blumenerde, Streichhölzer, Plastikbecher, Mörtel, Knallkörper, Backpulver, Reißzwecken, Rasierklingen, Haarclips. Der andere Tisch ist leer. Beide sind mit weißen Papiertischdecken bezogen.
Die meisten Zuschauer suchen sich, wie so oft, wenn ihnen die Bewegung im ganzen Raum freigestellt wird, einen Platz mit dem Rücken zur Wand. Die Performerin muss sie auffordern, näher zu treten. „The things I will do are very small“, sagt sie. „Maybe you want to come closer.“ Sie steht am Utensilientisch und legt eine weiße, gebügelte Schürze an. Die Zuschauer gruppieren sich zögernd um sie herum. Die Performerin geht mit einer Kirsche, einer Rolle Tape und einer Schnur in der Hand zum anderen Tisch. Sie bindet die Kirsche an das eine Ende der Schnur, klebt das andere Ende an der Tischkante fest, legt die Kirsche auf den Tisch, und schubst sie, fast schon im Weggehen, über den Rand.
Niemand ist näher getreten. Die Zuschauer bleiben stehen, wo sie sind, auch wenn erahnbar wird, dass dort nur das Material lagert. Erst nachdem sich der gleiche Ablauf drei-, viermal wiederholt hat – Meyer-Keller geht zu dem Tisch mit den Objekten, holt sich, was sie für ihre jeweilige Aktion braucht und führt diese am zweiten Tisch oder in wenigen Fällen auch an anderen Stellen im Raum aus – wechseln erste und dann immer mehr Besucher ihren Platz und treten wirklich näher. Am Ende der Performance umringen fast alle den vormals leeren Tisch, der zu diesem Zeitpunkt bereits so aussieht:
(Foto Tisch)
Was ist geschehen?
(Ausschnitt) 3.40; wenn fast ausgebrannt parallel weiter:
„Death is certain“ entstand 2002 in einer Performance- und in einer Videofassung und wird von Eva Meyer-Keller bis heute präsentiert. Die Arbeit wird gleichermaßen in Galerien und Museen wie in Theatern und auf Festivals für zeitgenössischen Tanz gezeigt. So lief die Live- Version etwa 2003 bei der „Dance Preview“ im Hebbel am Ufer in Berlin und beim „Klapstuk“ Festival in Leuven, 2004 im Rahmen des Programms „3 Wochen mit Pina Bausch“ in Essen oder 2008 beim „Printemps de Danse“ in Angoulème. Die Videofassung war u.a. 2006 auf der „Transmediale“ in Berlin zu sehen.
Die vielleicht zunächst überraschende Aufführung der mit nüchternem Laborantinnengestus performten Tötung von 40 Süßkirschen in Tanzbereich steht in Zusammenhang mit künstlerischen Verschiebungen, die im zeitgenössischen Tanz seit den 90er Jahren stattgefunden haben. Dazu gehört allen voran ein programmatisch erweitertes Verständnis von „Bewegung“ und „Körperlichkeit“. (black) Beide werden nicht mehr allein im Tänzerkörper vorgefunden und bearbeitet, sondern eben auch in Objekten, in Raum- und Sprachordnungen, in individuellen und kollektiven Handlungs- und Verhaltensmustern und in der Wahrnehmung des Zuschauers. Es sind im Laufe dieser Entwicklung Choreographien entstanden, die aus einem gesprochenen Vortrag bestehen (Xavier Le Roy: Product of Circumstances, 1999), die in Buchform publiziert wurden (Thomas Lehmen: Schreibstück, 2002), deren Protagonisten ein Staubsauger, ein Packung Salz, ein Wörterbuch oder eine Taschenlampe sind (Jérôme Bel: Nom donne par l’auteur, 1994) oder quasi-immaterielle Elemente wie Nebel, Schaum und Licht (Mette Ingvartsen: Evaporated Landscapes, 2009). In Anlehnung an Thierry de Duves Definition von Kunst aus „Kant nach Duchamp“ könnte man sagen: Tanz ist heute das, was Künstler Tanz nennen, was sie „als Tanz“ auswählen, rahmen und in den historischen, sozialen, politischen, medialen Kontext „Tanz“ stellen, womit sie diesen wiederum mit bilden. Soweit, so gut. Nun nennt aber Eva Meyer-Keller „Death is certain“ nicht einmal „Choreographie“ oder „Tanz“, sondern schlicht „Performance“. Bliebe noch die biographische Erklärungsmöglichkeit: Meyer-Keller ist Absolventin der SNDO, der School for New Dance Development in Amsterdam.1 Das macht sie zu einem zertifizierten „dance maker“ – so die dort in den 70er Jahren als produktionspolitischer Kampfbegriff eingeführte Bezeichnung, die die traditionelle Rollenverteilung zwischen dem „Choreographen“ als Formgeber und Schöpfer und dem „Tänzer“ als Material und Interpret egalisieren sollte. Doch Eva Meyer-Keller hat genauso wie Tanz in Amsterdam / Photographie in Berlin und Bildende Kunst in London studiert.(2)
Ich möchte eine andere Erklärung für die Relevanz von „Death is certain“ im Tanzkontext vorschlagen und weniger danach fragen, ob das Stück „Tanz ist“ oder von seiner Macherin als solcher intendiert wird, sondern was dazu geführt haben könnte, dass es von Tanzkuratoren als choreographische Arbeit wahrgenommen und für interessant befunden worden ist. Ich unterstelle, dass ihrer Auswahl eine gewisse Anschlussfähigkeit der Thematik und/oder Machart von „Death is certain“ an Fragestellungen zu Grunde liegt, die im Tanzfeld derzeit eine Rolle spielen. Diese Untersuchung führt mich, wie der Titel meines Vortrags verrät, zur Figur des Zuschauers.
Eine kurze Anmerkung zu dem Bild- und Filmmaterial, das ich verwende: 1 Zwar gibt es einen Proben-Mitschnitt der Performance, aus dem diese stills hier stammen, doch ist er aus so großer Distanz gefilmt, dass die einzelnen Handlungen nur teilweise zu sehen sind. 2 Deshalb habe ich mich entschieden, mit Ausschnitten aus der Video-Version zu arbeiten, die ich selbst aber nicht gesondert thematisiere. 3 Meine Argumentation zur Zuschauerschaft bezieht sich auf die Performance. 4 Ich entschuldige mich im Voraus, dass ich eine eigenständige künstlerische Arbeit auf diese Weise zweckentfremde, um den Eindruck der Nah-Wirkung einer anderen zu simulieren. 5 Außerdem ist natürlich zu bedenken, dass unsere Situation hier, in vorgegebener Sitzordnung, arrangiert vor dem gescreenten, aus fixer Kameraposition aufgenommenen, seriell geschnittenen Filmbild maximal von der Anordnung der Live-Performance abweicht, 6 in der jeder Betrachter entscheiden kann, wo er sich positioniert und was er sehen will. Ich hoffe, dass sich zwischen den verschiedenen Materialien dennoch 7 eine hybride, notwendiger Weise virtuell bleibende Vorstellung der Vorstellung „Death is certain“ herstellen lässt. (schwarz)
„Death is certain“ spielt in idealtypischer Weise mit einer im zeitgenössischen Tanz und mittlerweile auch in der tanzwissenschaftlichen Diskussion einflussreich gewordenen „Politik der Vorstellung“, die im Kern auf die Vorstellung (im Sinne von „Konzept“) der Vorstellung (im Sinne von „Aufführung“) als wesentlich in der Vorstellung (im Sinne von „Imagination“ oder „Wahrnehmung“) des Zuschauers sich realisierendes Ereignis abzielt. „Politik der Vorstellung“ ist auch der Titel eines 2006 von Joachim Gerstmeier und Nikolaus Müller-Schöll herausgegebenen Sammelbandes zu „Theater und Theorie“, in dem stills aus der Videofassung von „Death is certain“ unkommentiert als die zentrale Bildstrecke erscheinen. Dort heißt es in der Einleitung: „Geht es heute nicht – frei nach Godard – darum, politisch Theater zu machen und nicht politisches Theater? Wo aber ist die Bühne solchen Theaters? Und vor welchem Publikum findet es statt (...)?“(3)
(exzerpt 2) 5:24
Es mag an ihrer kompakten, prallen Körperlichkeit liegen, der glänzenden, glatten Haut, dem weichen, zart-transparenten Fleisch, dem knochenähnlichen Stein im Inneren, dem konzentriert blutroten Saft. Die Kirschen laden sich auf mit unserer Empathie, obwohl Eva Meyer-Keller sie ohne jede Regung und keinen Deut anders handhabt als all die anderen Alltagsgegenstände, die man als Waffen und Tötungswerkzeuge anzusehen beginnt. Die Kirschen transformieren sich in die eigentlichen „Akteure“, denen erst jetzt der Tod, der allen gewiss ist, überhaupt ‚leibhaftig’ widerfahren kann. Zunehmend reagieren die Zuschauer hörbar auf die Performance. Jemand sagt laut „Autsch!“, als ein Schlagbohrer zum Einsatz kommt. Lachen und stöhnende Schmerzlaute wechseln sich vor allem bei den besonders blutigen „Mordspointen“ ab. Gleichzeitig verhindern das Tempo und der Pragmatismus von Meyer-Kellers Handlungen – sie arbeitet eine handschriftlich auf einem Collegeblock notierte Liste ab, die sie zwischendurch immer wieder auf bisher noch nicht umgesetzte Variationen durchsieht – dass das Vorgeführte allzu rituell erscheint und dass die einzelnen Schauplätze auf dem Weiß des Tischtuchs nach vollbrachter Tat zu kalligraphisch-mahnenden Sinnbildern einfrieren. Das hat das akkumulative räumliche Nebeneinander der Performance dem cleanen zeitlichen Nacheinander des Videos voraus. Besonders in der Performance-Fassung bleibt jede Kirsche immer auch ein sehr banales Stück Obst und die für Momente konzentrierten Greuelszenen verlieren sich, sobald unsere Aufmerksamkeit weiter gewandert ist, in der flächigen Sauerei auf dem Küchentisch. Die Transformation vom Ding zur Figur vervollständigt sich nie ganz – wie es beispielweise der Ehrgeiz eines virtuosen Objekttheaters wäre. Erhalten bleibt die Distanziertheit eines Kinderspiels, das seine uneingeschränkte Macht demonstriert, alles in alles zu verwandeln durch eine simple Verabredung, die niemandem Schaden zufügt: Du bist der Hund. Ich bin die Katze. Du bist tot.
Wer trifft hier mit wem welche Verabredung? Wie steht es mit der Frage nach dem politischen versus politisch gemachten Theater? Und wer verantwortet am Ende eigentlich das Kirschen-Massaker? Die Zeremonienmeisterin Meyer-Keller? Der einzelne Zuschauer, der seine eigene Spezies unter Stöhnen in der Kirsche wiedererkennt, aber dem Unheil zu gern zusieht als das er es abwenden würde? Oder „das Publikum“, das sich über seine kollektive Einwilligung in die Spielregeln und die Anerkennung der Empathiewürdigkeit der gemeuchelten Früchte als Publikumsgemeinschaft konstituiert? Claudia Benthien erinnert daran, dass die Kollektivität „Publikum“, die Synthetisierung einzelner Zuschauer zu diesem „homogenen Hyper-Organ“ nicht einfach eine Gegebenheit der Theatersituation darstellt. Sie müsse immer wieder neu hergestellt werden, wobei die Politik dieser Kollektivbildung durch Konventionen wie Schweigen, Stillsitzen und Dunkelheit eine bestimmte (Zitat Benthien) „passive(n), quasi sakrale Rezeptionshaltung (...) in voyeuristischer Positionierung“ befördere. (173)
In „Das Leiden anderer betrachten“, ihrer Untersuchung zu Geschichte und Wirkung der Kriegsfotographie, argumentiert Susan Sontag, dass Repräsentationen von Gewalt, Tod und Leid – sie erwähnt hier auch explizit die szenische Form – in kulturellen Kollektiven mehrheitlich eingeübte Pathos-Reflexe aktivieren. Das bedeutet, dass sich ihre emotionale Wirkung wie im Fall griechischer Tragödien, christlicher Passions- oder japanischer No-Spiele zwar nicht abnutzt. Das bedeutet aber auch, dass die „Unmittelbarkeit“ ihrer Wirkung auf der Vermitteltheit einer Konventionalität beruht, bei der Schrecken und Erschütterung letztlich nur das Mittel zum Zweck kanalisierter Selbsterfahrung und Restauration sind. Sontag beschreibt hier den Effekt der „Katharsis“. Fehlt einer Gewaltdarstellung diese ikonische Anbindung an eine Tradition und/oder Konvention, werden zwar starke Emotionen freigesetzt, die allerdings genauso wenig in mobilisierende Entrüstung oder Handlungsenergie umschlagen müssen. Im Gegenteil: „The question is what to do with the feelings that have been aroused, the knowledge that has been communicated. If one feels that there is nothing "we" can do—but who is that "we"?—and nothing "they" can do either—and who are "they"?—then one starts to get bored, cynical, apathetic. And it is not necessarily better to be moved. Sentimentality, notoriously, is entirely compatible with a taste for brutality and worse.“ (79)
In gewisser Weise inszeniert Eva Meyer-Keller eine sehr spektakuläre Gewaltdarstellung, die allerdings wie im Kinderspiel die von Sontag bezogen auf Nachrichtenbilder von Kriegsschauplätzen beschriebenen brisanten Komponenten der durchlebten affektiven Gemengelage als solche spielerisch hervortreten lassen kann. Man schaut hin. Schaut weg. Schaut die anderen an, die hinschauen. Oder zurückschauen, um zu schauen, wie man schaut. Die Performance entwickelt sich über die Zeit zu einem regelrechten Spielplatz der Blickregime. Während das Blut der Kirschen weiter fließt.
Kein Zweifel. „Death is certain“ legt die Assoziation konkreter politischer Fragen nahe: den Diskurs zur Todesstrafe, die Frage nach der Auswirkung gewalttätiger Videospiele oder die Debatte um Folter in den Gefängnissen von Abu Ghraib und Guantánamo. Wäre „Death is certain“ aber ein Stück über die Todesstrafe, die Auswirkung gewalttätiger Videospiele oder Folter in Abu Ghraib und Guantánamo – es fiele laut der Godard-Paraphrase von Gerstmeier und Müller-Schöll in die Kategorie „politisches Theater“, über die die Autoren hinausgehen wollen. Scheinbar eignet sich die Performance im Gegenteil gerade als Illustration der Vorstellung eines „politisch gemachten“ Theaters. Es geht, würde daraus folgen, nicht um sinnloses Töten, nicht um den elektrischen Stuhl, die Giftspritze oder die Gaskammer, sondern um die Politik unseres Sehens --- und zwar nicht einmal gleichnishaft abzielend auf unser alltägliches Ausgeliefertsein an eine Flut von Medienbildern, deren Einfluss aus unsere Empathiefähigkeit Susan Sontag so intensiv beschäftigt, sondern als das, was wir in dem Moment der Performance sind: Zuschauer in einem Theater- oder Galerieraum. Genau damit, möchte ich behaupten, trifft „Death is certain“ einen Nerv in der Tanz- und Theaterszene.
Eva Meyer-Keller verweigert jede Form kommentierender Relativierung oder Perspektivierung dessen, was sie tut und zeigt. Auch darin folgen ihre Methoden der Eigenlogik des Kinderspiels. Und sie werden, eine Anekdote am Rand, die sich aber mit meiner weiteren Argumentation zur Zuschauerschaft verbindet, interessanter Weise aus demselben Grund als „nicht kindgerecht“ empfunden. Im Vorfeld von „Building after Catastrophes“ (2007), in dem Meyer-Keller mit Kindern als Performern live Modelle von Naturkatastrophen aus Nahrungsmitteln und Haushaltsgeräten nachbaut, abfilmt und live als „Katastrophenfilm“ auf Monitoren im Raum der Performance überträgt, erhielt sie von einem Berliner Theater eine Ablehnung. Darin heißt es, es fehle dem Projekt die klare inhaltliche Stellungnahme zum Thema. Ohne appellative moralische Rahmung sei das Spiel mit den Katastrophen missverständlich als Banalisierung von menschlichem Leid und damit ethisch und pädagogisch nicht vertretbar.
(exzerpt 3) 4:51
Ich erwähne diese Aussage in unserem Zusammenhang, weil es mir um eine immanente Widersprüchlichkeit geht, die der Beschäftigung mit dem Zuschauer im zeitgenössischen Tanz derzeit innewohnt und für deren Herausarbeiten ein Umweg über den Begriff des Pädagogischen produktiv sein kann. Einerseits heißt es immer wieder, dass sich der Wahrnehmungshorizont der Zuschauers in die eigentliche Spielfläche verwandelt hat, auf der sich die eigentliche Bewegung choreographischer Entwürfe, auch dann, wenn sich gar nicht mehr menschliche Körper auf einer Bühne bewegen, realisiert. In der Philosophie diskutiert man zeitgleich den Fokuswechsel von einer Objektästhetik hin zu einer Ästhetik als „ästhetische Erfahrung“. In der Theater und Tanzwissenschaft wird der Zuschauer vom (Bailes 98) „spectator(s)- consumer(s)“ zum (Siegmund: Erfahrung dort, wo ich nicht bin, 65) „Autor des Stücks“ und zum (Fischer-Lichte, Die Entdeckung des Zuschauers 35?) „unumschränkten Herrscher über alle möglichen Semiosen“ geadelt. Andererseits suggeriert die Rhetorik, mit der das Verhältnis Aufführung-Zuschauer im gleichen Atemzug umschrieben wird, dass zeitgenössische Performances die „Selbstaktivierung“ (Ploebst, no wind no word 263) des Zuschauers erst in besonderer Weise anstoßen. Ihm wird -„ermöglicht“, „eröffnet“, „erlaubt“, er wird „dazu eingeladen“, aber er wird auch „dazu gebracht“, „dazu bewegt“, „veranlasst“, „genötigt“, ja „gezwungen“, sich der Produktivität seiner Wahrnehmung bewusst zu sein. Bei Helmut Ploebst, den ich hier stellvertretend für eine Vielzahl von Autoren zitiere, findet sich denn auch der schöne Satz: „Das Auditorium verwandelt sich zunehmend in ein Autorium.“ (256)
Auslöser dieser Veränderung sei die Tatsache, dass dem Zuschauer etwas entzogen wird – nämlich das, was er als fließende, virtuose Bewegung von Tänzerkörpern, was er als Tanz kennt. Dieser vorausgesetzte, dem Bruch mit Erwartungen und dem Zusammenbrechen einer nur passiven Konsumentenhaltung dienende Reduktionismus – ein Phänomen, das ich im Gegensatz dazu weiter oben bewusst als Erweiterung des Bewegungsverständnisses beschrieben habe – spiegelt sich in den Namen wider, die man der künstlerischen Richtung, zu der Eva Meyer-Kellers Arbeit oft gezählt wird, zwischenzeitlich gegeben hat: „Nicht-Tanz“ oder „Konzept-Tanz.“ Ploebst nennt sie 2002, im Entstehungsjahr von „Death is certain“, im Untertitel seines Buches „no wind no word“ „Neue Choreographie“. Genau genommen: „Neue Choreographie in der Gesellschaft des Spektakels“.
In einer Statistik, die ich im Rahmen der Vorarbeiten zu meiner Dissertation zu den meist zitierten theoretischen Texten in aktuellen tanzwissenschaftlichen Publikationen über Vertreter des so genannten „Nicht-Tanzes“ angelegt habe, belegt Guy Debords „Gesellschaft des Spektakels“ konkurrenzlos den ersten Platz.4 Sechs von sieben untersuchten Bänden ziehen Debord für ihre Argumentation heran und zwar in immer ähnlicher Weise: Peggy Phelans einflussreiche Definition eines prinzipiell repräsentations- und kapitalismuskritischen Wesens aller performativen Kunst gründete in deren Ereignishaftigkeit, die Phelan per se als inkompatibel mit der Objektlogik der Marktes erschien. Ähnliches gilt für die Repräsenzkritik qua Präsenz, die Erika Fischer-Lichte in ihrer um den Aufführungsbegriff zentrierten „Ästhetik des Performativen“ entworfen hat. Wie aber steht es um die Widerständigkeit und Kritikfähigkeit von Performance, wenn das „event“ zur kulturellen Norm, wenn alles zum Spektakel wird, zu einer permanenten Aufführung von Leben und Gesellschaft. Eben einen solchen Zustand visioniert Debords Text aus den sechziger Jahren. Er zeichnet das Bild einer Welt, in der es nichts gibt außer Bilder und Vorstellungen – Illusionen, Oberflächen, Schein. Naturgemäß stellt eine solche „Gesellschaft des Spektakels“ für jegliche Ontologien einer essentiellen Widerständigkeit der Aufführungskünste Tanz und Theater ein existenzielles Problem dar. Und nicht nur für sie – vor allem auch für den Zuschauer, über den es bei Debord fatalistisch heißt: „Die Entfremdung des Zuschauers [...] drückt sich so aus: je mehr er zuschaut, um so weniger lebt er“ (26). Der Blick des Zuschauers ist ein Böser Blick, nicht weil er wie der gleichnamige Schadenszauber im Volksglauben durch (bloßes) Anschauen tätlich Übel zufügt. Er ist schädlich, weil sein „Nur schauen“ aktiv lediglich Passivität installiert. Verwandt dem Blick der Medusa, der alles zu Stein erstarren lässt, hält der Zuschauer „das Leben“ – so dieses denn überhaupt noch als Kategorie Sinn macht – auf / für die Dauer seines Zuschauens unüberwindliche Distanz.(5)
Dabei hatte das Theater den Zuschauer gerade erst entdeckt. So beschreibt es Fischer-Lichte in „Die Entdeckung des Zuschauers“, wo sie letztere ins frühe 20. Jahrhundert datiert und dessen entscheidenden „Paradigmenwechsel“ nennt. Zuvor basierte das wirkungsästhetische Konzept eines effektiven Verhältnisses zwischen Bühne und Auditorium auf der Idee, dass der Zuschauer sich in seinen künftigen Handlungen inhaltlich auf diejenige Vision des Lebens bezieht, die ihm die Bühne beispielhaft zeigt. Erst die Theateravantgarden zwischen 1900 und 1935 betrachteten den Zuschauer erstmals als zu verschiedenen Entwürfen eines „neuen Menschen“ formbares Material. Er war der Ausschnitt von Welt, auf den das Theater unmittelbar einwirken, ihn in der Aufführung verändern konnte.
In diese Phase der Theatergeschichte datieren auch die zwei Aufführungsmodelle, von denen sich ein derzeit im Tanzfeld ungemein populärer Text zur Zuschauerschaft abgrenzt. In „Der emanzipierte Zuschauer“ verwirft Jacques Rancière mit ein und demselben Argument die Ansätze Bertolt Brechts und Antonin Artauds: Beide folgen für Rancière irrtümlich der Ansicht, Zuschauerschaft sei mit Passivität assoziiert, sie stünde damit im Gegensatz zu Erfahrung und Erkenntnis und müsse mittels Distanzierung (Brecht) oder Distanzentzug (Artaud) künstlich/künstlerisch in Aktivität überführt werden. Diese angeleitete Überführung steht bei Rancière als pädagogische Verdummung in der Kritik, die den Zuschauer in eine Abhängigkeit zur Aufführung bringt, die analog zu der Abhängigkeit eines Schülers von seinem Lehrmeister ist. Dem Zuschauer/Schüler wird suggeriert, dass ihm die Aufführung den Weg zu seiner Aktivität erst bahnen muss. Die Emanzipiertheit des Zuschauers liegt für Rancière demgegenüber immer schon in seinem Vermögen zu schauen. Liest man Fischer- Lichtes Ausführungen von 1997 zum Zuschauer im postdramatischen Theater noch einmal – „Der Zuschauer wird (...) in seine Rechte als Zuschauer eingesetzt (...). Rezipieren ist Produzieren, Zuschauen ist Handeln.“ – klingt Vieles aus dem 2010 erschienenen „Emanzipierten Zuschauer“ Rancières keineswegs so innovativ wie der Ruf, der ihm vorauseilt. Es geht mir hier nicht um ein Votum für Fischer-Lichtes Theorie. Viele Texte aus der Theater- und Tanzwissenschaft haben in den letzten zehn Jahren, sich an Stücken wie „Death is certain“ abarbeitend, „den Zuschauer“ oder „das Publikum“ in den Mittelpunkt gerückt. Was macht nun den Erfolg des kleinen Aufsatzes eines französischen Philosophen, der nicht zu dessen besten Texten gehört und in vieler Hinsicht grob vereinfachend argumentiert, so durchschlagend?
„Der emanzipierte Zuschauer“ ist ein Phänomen. Eigentlich handelt es sich um eine Art Auftragstext – im Umweg über die intensive Rezeption einer Schrift zur Pädagogik seitens des europäischen Performancefeldes. Die Lektüre von Rancières Pädagogiktheorie in „Der unwissende Lehrmeister“ war der Grund, warum das Kuratorenteam Dieter Buroch, Florian Malzacher und Marten Spangberg ihn 2004 als key note speaker zur Internationalen Sommerakademie in den Mousonturm Frankfurt einlud --- ein bedeutendes Forum der Performance- und Bühnenkunst. Das erzählt Rancière zu Beginn seines Frankfurter Vortrags und bekennt auch seine Perplexität über die Anfrage – er verstehe schließlich nicht wirklich etwas von Theater.(6)
„Der unwissende Lehrmeister“ ist seine Auseinandersetzung mit der Pädagogik Joseph Jacotots, der 1818 als französischer Exilant an der Universität von Leuven eine Stelle für französische Literatur annimmt, ohne ein einziges Wort Niederländisch zu sprechen. Aus dieser Not heraus entwickelt Jacotot ein Unterrichtssystem, das rein auf der eigenverantwortlichen, vergleichenden Auseinandersetzung der Studenten mit einer zweisprachigen Ausgabe des „Telemach“ von François Fénelon basiert. Aus dem Lernerfolg dieses Vorgehens folgert Jacotot allgemeine Prinzipien: 1. Alle Menschen haben die gleiche Intelligenz. 2. Alles ist in allem. 3. Der Lehrer vermittelt sein Wissen nicht über Erklärungen. Man kann unterrichten, worin man unwissend ist. Die „pädagogische Verdummung“ die Rancière dem Publikumsaktivierungsehrgeiz von Brecht und Artaud vorwirft, hat ihren Ursprung hier: in der Vorstellung einer Revolutionierung von Pädagogik, bei der der Lehrmeister nicht etwa nicht mehr vorkommt, wohl aber jegliche Erklärung von Inhalten verweigert. Es geht nicht um die Abschaffung der Autorität der vermittelnden Instanz, sondern um die Überarbeitung ihrer Methoden. Und die neue Vermittlungsmethode des Lehrmeisters heißt: Nicht-Vermittlung. In seinem äußerst lesenswerten Text „Das undarstellbare Publikum. Vorläufige Anmerkungen für ein kommendes Theater“ (erschienen 2009) leistet Nikolaus Müller-Schöll einen Beitrag zu der dringend gebotenen Entzauberung von Rancières Theorie und ihren theaterwissenschaftlichen Vorläufern: Dazu greift er erneut auf den Begriff der „Politik der Vorstellung“ zurück, betont aber diesmal den Aspekt der „Politik“ und damit die Unhintergehbarkeit der Tatsache, dass im Theater immer ein machtpolitisches Dispositiv wirksam ist. Der Aufklärer- und Pädagogen-Rethorik in nicht wenigen Texten, die den Ausgang des Zuschauers aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit an der Hand zeitgenössischer Performances beschreiben, setzt Müller-Schöll entgegen, dass das Publikum auf diese Weise, in die „Rolle des Subjekts der Performance“ gerückt und „zum Grund einer neuen Metatheorie“, zum „Gott einer negativen Theologie“ (84) des Theaters zu werden droht. Der emanzipierte Zuschauers ist aber, so seine Gegenthese, der ich mich hier anschließe, nicht das heute in persona im Theater anzutreffende glückliche Ergebnis einer konkreten zeitgenössischen Theaterpraxis, die dem Zuschauer endlich zu seinem Recht verhilft, in dem sie ihm zu nichts mehr verhilft, sondern allein zu denken und zu verstehen als ein „sich gegen die Ideologie der Performance wie jede(r) institutionalisierten Theaterform wendendes utopisches Potenzial.” (89)
Womöglich, möchte ich weiter zuspitzen, befördert der gegenwärtige Diskurs zum Zuschauer als „Autor“ und „Subjekt“ der Performance diese in Bezug auf den Künstler mühsam relativierten und problematisierten Konzepte – Autor und Subjekt – durch die Hintertür wieder mitten auf die Bühne des Denkens über Tanz und Theater.
In „Was ist ein Autor?“ hat Michel Foucault darauf hingewiesen, dass der Name des Autors vor allem dazu dient, einen Modus, im Diskurs zu sein, zu bezeichnen. Die Autorfunktion nach Foucault verweist nicht indikativ auf einen konkreten „Jemand“, sondern erscheint als diskursives Funktionsprinzip, ein ideologisches Produkt, „die mehr bis minder psychologisierende Projektion der Behandlung, die man Texten angedeihen lässt“. Dieses Konzept des Autors als Figur auf der Bühne des Diskurses auf den Zuschauer anzuwenden, kann dazu beitragen, die „Zuschauerfunktion“ im jüngsten tanz- und theaterwissenschaftlichen Diskurs, die sich wie ich zu zeigen versucht habe, als äußerst widersprüchlicher Charakter entpuppt, differenziert zu beleuchten.
Nachspiel:
Unter dem Titel „Their job is not to dance, but to watch other people dancing – if they dance” ist ein 2006 auf der Konferenz “Inventur” im Tanzquartier Wien geführtes Gespräch zwischen dem französischen Choreographen Jérôme Bel und dem niederländischen Regisseur Jan Ritsema in dem Band “It takes place when it doesn’t. On dance and performance since 1989” veröffentlicht.
Ich zitiere:
Bel: „(...) what I try to use is transparency. (...) Not to dominate is my favourite political statement till now. (...) I have to admit it but this was the only possibility for me to force, excuse me if I use the word, the dignity of the audience. (...) if you don’t try to dominate the audience they try to kill you. Right?“
(exzerpt 5) 0:23 (Backstein)
Anmerkungen
1. Die SNDO wurde nach ihrer Gründung 1975 für ihren offenen Tanzbegriff und ihre experimentellen Methoden bekannt. Vermittelt wurde weniger ein bestimmter stilistischer Trainings- und Technikkanon als, wie man heute vielleicht sagen würde, ein eigenständiges, research- und methoden-orientiertes künstlerisches Arbeiten.
2. Solche Patchwork-Hintergründe gelten für viele namhafte Choreographen wie Xavier Le Roy (der seinen Doktor in Molekularbiologie mit Forschungen zu Brustkrebs erworben hat), Antonia Baehr (die Film- und Medienkunst bei Valie Export studierte) oder Laurent Chétouane (der vor seinem choreographischen Erfolg als Sprechtheaterregisseur etabliert war).
4. Vor „Das Zeit-Bild“ von Deleuze und dem „Anti-Ödipus“ von Deleuze/Guattari.
5. Die Chiffre des „wahren Lebens“, die bei vielen der polarisierenden Formulierungen Debords durchscheint, das „Echte“, das es hinter der geschlossenen medialen Oberfläche nicht mehr gibt, ist in sich problematisch. Auffälliger Weise stören sich die Tanzwissenschaftler, die sich auf die „Gesellschaft des Spektakels“ berufen, daran nicht.
6. Diese erste Fassung von „The emancipated spectator“ ist auf you tube (in sehr schlechter Bild- und Ton- Qualität) verfügbar, und auch in dem Buch „Reverse Engineering Education: In Dance, Choreography and the Performing Arts“ (2007) publiziert.