Kunst mit Kindern: anders schreiben
von Kristin Westphal
Heiner Müller hat in einem Gespräch einmal gesagt, die Aktualität der Künste liege im Morgen. In der Tradition der Erziehungswissenschaften (Schleierma- cher) wird der Horizont von Kindern auf ein noch unbestimmtes Künftiges gese- hen, der wie der Horizont der Künste als ein geöffneter Möglichkeitsraum ge- dacht wird. Den Künsten wie auch den Kindern wird ihr Potenzial als das, was aus der Zukunft auf die Gegenwart noch zukommt und keineswegs schon in der Gegenwart ausgebildet ist, zugeschrieben. Aus der Perspektive von Erwachsenen teilen wir uns die Gegenwart mit der heranwachsenden Generation. Doch rei- chen wir nicht an die Welt des Kindes heran. Kinder sind uns vertraut, sofern wir uns erinnern lassen an die eigene Kindheit, und sie sind uns zugleich fremd, so- fern sie ihre eigenen Erlebniswelten haben, die sich uns entziehen (vgl. Lippitz 2003: 193).
Die Art und Weise, wie Kinder die von Erwachsenen bestimmten Ordnungen und Spielregeln deregulieren, spielerisch außer Kraft setzen, Neues erfinden oder endlos wiederholen, was ihnen im Spiel Lust bereitet, ist mit dem künstlerischen Tun vergleichbar, ohne dass sie jedoch gleich als Künstler gelten. Ähnlich wie Kinder mit Ordnungen, die sie erst über Erwachsene vermittelt bekommen, um- gehen, wird auch in künstlerischen Schaffensprozessen mit vorgegebenen Ord- nungen gespielt, die neue Sichtweisen auf Welt- und Selbstverhältnisse eröffnen. Sie haben die Struktur von Ereignissen, in denen Sinn entsteht, aus dem Sinn im Tun hervorgeht. Das kindliche Spiel hat mit unserer Welt zu tun und schafft dennoch eine eigene Welt.(1) Es rührt uns Erwachsene an und unterbricht uns in den Gewohnheiten, Welt zu sehen bzw. zu deuten. Das Potenzial einer künstleri- schen Tätigkeit wie auch das des kindlichen Spiels haben so gesehen etwas ge- meinsam: Beide lassen aus etwas, das Teil eines Bedeutungszusammenhanges ist, etwas Anderes entstehen. Dieses Andere entzieht sich mit Merleau-Ponty ei- ner Eindeutigkeit und schafft einen Überschuss an Sinn. Im Unterschied zum kindlichen Spiel jedoch setzt uns die künstlerische Tätigkeit bewusst neuen Ord- nungen vor vorhandenen Regelsystemen auf dem schwankenden Boden unserer Wahrnehmung und damit unseres Urteilens aus. Kindern einen Weg zum künstlerischen Tun zu bahnen, erfüllt so gesehen ein Doppeltes: Die Erwachsenen zeigen ihnen, wie sie künstlerisch arbeiten, und gleichzeitig begegnen sie den Kindern in dem, was ihnen schon durch ihr Spiel- vermögen gegeben ist: Die Welt und sich selbst zu finden und zu erfinden.(2) In der jüngsten Zeit haben etliche Gruppen Konzepte entwickelt, die ihre künstleri- sche Arbeit weder im Sinne eines rein erwachsenen Spiels für Kinder, noch eines Theaterspiels über Kinder verstehen, sondern den Ansatz in der künstlerischen Arbeit mit Kindern als Kinder suchen. Interessant daran ist, dass sie nicht ein- fach die Bühne den Kindern überlassen – Versuche, die es in der Vergangenheit gegeben hat –, sondern ganz im Gegenteil: Die Stimme der Künstler (als Er- wachsene) fließt in die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ein und wird zur Disposition gestellt (vgl. Westphal 2014). An einem Beispiel soll das genauer ausgeführt werden.
Bauen nach Katastrophen. Ein Langzeitprojekt
Auf eine ungewöhnliche Weise initiieren die Berliner Performance-Künstlerin- nen Eva Meyer-Keller und Sybille Müller eine Performance-Installation mit Kin- dern für Erwachsene. Die Installation mit dem Titel „Bauen nach Katastrophen“ (Festival Natura Dèi Theatri in Parma 2007; Kampnagel Hamburg 2008; Lofoten 2009; Brüssel 2009; Berlin 2009) zeigt einen performativen Zugang zu einer schon in der Kunst selten behandelte Thematik. Katastrophen sind für den be- troffenen Menschen eine extreme, ja eine ungeheuerliche Fremdheitserfahrung, seien sie von Menschen Hand verursacht oder naturbedingt. Das Genuine daran ist, dass das Individuum die Erfahrung im Sinne eines Widerfahrnisses macht. Es ist einem Geschehen ausgesetzt und darin mit Haut und Haaren verwickelt, fern jeder Steuerungsmöglichkeit und souveräner Selbstbehauptung. In der europäi- schen Kunst können wir beobachten, dass in früheren Jahrhunderten die Visuali- sierungen von Katastrophen als Mahnung vor göttlichen Strafen gelten oder sie die pure Faszination von Naturgewalten wie die menschliche Sensationslust be- friedigen.(3) Die Darstellungen zeigen sich gegenüber dem Phänomen oft als wi- dersprüchlich: sie faszinieren als Gewalt der Zerstörung und verkünden häufig die Möglichkeit eines Neuanfangs. Katastrophen werden somit als zerstörendes und als schaffendes Phänomen reflektiert.(4)
(Proben zu dem Katastrophenmodell Blitzeis. Foto: Lucas Fester)
Das Konzept für die Produktion von Eva Meyer-Keller und Sybille Müller hatte einen sehr speziellen Ausgangspunkt – anlässlich einer Einladung zum Work- shop „Normal ist Anders“ 2006 entstand die Idee, mit Alltagsgegenständen, Kindern und Katastrophen zu arbeiten. Trotz kritischer Einwände der Veranstal- ter wurde diese Idee weiter verfolgt: So wurde anlässlich einer Klimakonferenz unter Wissenschaftlern in Potsdam recherchiert, das Konzept in einem Arbeits- kreis mit Theaterwissenschaftlern und -pädagogen im Rahmen eines europäi- schen Kongresses an der Frankfurter Goethe-Universität unter der Fragestellung nach neueren Formen des Theaters mit Kindern und Jugendlichen diskutiert und nicht zuletzt auf einem Symposium im Künstlerhaus Mousonturm aufgenom- men.
Der Zugang der Produktion knüpft an eine Erfahrungsweise an, die insbe- sondere der kindlichen nahe kommen dürfte, insofern gerade Kinder ‚Experten‘ im Erforschen von Alltagsmaterialien und Beobachten von Vorgängen und schon den ‚alltäglichen Katastrophen‘ in ihrem Umfeld sind. Hinzu kommt, dass Überschwemmungen und Vulkanausbrüche wie z. B. in Island – der dazu führte, dass der Flugverkehr im europäischen Raum lahm gelegt wurde – Themen sind, die in kulturell übermittelter wie erzählter und vielleicht auch für manchen Zu- schauer einen Bezug im eigenen Leben hat. Am Aufführungsort Kampnagel in Hamburg z. B. dürfte das Thema am Modell der Sturmflut die existentielle Tragweite bei manch einem Zuschauer entsprechende Assoziationen, wenn nicht gar Erinnerungen ausgelöst haben. Das Besondere der Konzeption ist, dass die beiden Performancemacherinnen mit jedem neuen Aufführungsort mit einer neuen Gruppe von Kindern in den jeweiligen Ländern das Stück neu- bzw. weiterschreiben – oder besser: anders schreiben. Für Kinder in Parma stellt sich die Frage anders als auf den Lofoten oder in Berlin.
An jedem Aufführungsort erarbeiten die Künstlerinnen zunächst gemeinsam mit den Kindern mit Hilfe von alltäglichen Gegenständen aus dem Haushalt wie Föhn, Mixer, Zange, Papier und Streichhölzern sowie Zutaten wie Zuckerstü- cken, Mehl, Pudding und Wasser in Versuchsanordnungen Katastrophenmodel- le, die zusätzlich mit den Mitteln der Kamera, die die Kinder selber bedienen, und von einem Sounddesigner (Jeff McGrory) begleitet werden. Das Projekt zeigt sich somit in vielerlei Hinsicht als ein experimentell angelegter Produkti- onsprozess. Mittels Beobachtung, Wiederholung und Analyse werden Naturer- eignisse wie Sturmflut, Erdrutsch, Überschwemmung, Vulkan oder Hagelschlag usf. nachmodelliert aufgeführt. Sie erscheinen als Faltungen, Einschläge, Überwerfungen, Verschiebungen, Prasseln, Quellungen, Sog und Druck, Brand und Wind, Blitz und Donner etc. (vgl. Burk 2009).
Für die Performance werden den Betrachtern verschiedene Einsichten auf die Präsentationen gezeigt. Auf Tischen steht zum einen einsehbar das Material und Werkzeug, mit dem gearbeitet wird. Auf verschiedenen rollenden niederen Ti- schen sind zum anderen die Versuchsanordnungen für die einzelnen Aktionen aufgebaut, die man aus der Nähe nachvollziehen kann. Zugleich gewähren fer- nerhin Bildschirme Einsicht in das innere Geschehen der hergestellten „Kata- strophenverläufe“ und in Großaufnahmen sehen wir, wie sich Farben, Muster, Gestalten und Strukturen etc. während des Versuchs verhalten und verändern. Im Raum befindet sich außerdem eine „Tonstation“, an der vor Mikrofonen Geräu- sche zu den Bildern der Aktionen ge- und erfunden werden. Daneben ist die Technik – bedient von einem Sounddesigner – ebenfalls einsehbar aufgebaut. Gezeigt bekommt man von den Kindern ihre Entdeckungen, wie sich Geräusche und Töne anders anhören, wenn man sie technisch aufnimmt.
(Tüfteleien. Foto: Lucas Fester)
Die Katastrophenmodelle werden von den Kindern und den Künstlerinnen in ei- nem streng rhythmisierten und choreografierten Ritual gemeinsam vorgestellt. Dabei wird sich nonverbal mit Gesten verständigt. Jeder Handgriff, der einmal aus einem Zufall erwachsen ist, muss nun zur Präsentation wiederholbar ge- macht werden und verlangt den Kindern ein hohes Maß an Konzentration, Dis- ziplin und Abstimmungsbereitschaft für das Gesamtgeschehen ab. Die beiden Künstlerinnen treten eher in den Hintergrund und helfen den Kindern dabei, den Ablauf zu realisieren. Verfolgt wird die Idee, die durch Medien vermittelten ka- tastrophalen Ereignisse aufzugreifen, mit den Kindern Assoziationen zu sam- meln und die Thematik auf eine ästhetische Weise unter Verwendung verfrem- dender Mittel zu bearbeiten, über die sie selbst verfügen können. Die existentiel- le Dimension, die katastrophale Geschehnisse auf den Menschen haben, bleibt den Kindern dabei natürlich entzogen. Die performative Arbeit mit Kindern an dem Thema „Nachbauen von Katastrophen“ mit den Mitteln der Medien/Künste kann im besten Falle für die aufgeworfenen Fragen und Themen sensibilisieren.
Die Faszination in unserem Beispiel liegt vor allem bei der Einsicht der Dif- ferenzen, die die Versuche mittels visueller und akustischer Medien im Spiel mit Nähe und Ferne ergeben. Wir sehen, wie etwas vor unseren Augen – wie es in einem Labor geschieht – und zugleich in technisch-visueller und akustischer Form auf den Bildschirmen vor uns mehrfach aufgebaut anders erscheint. Physi- kalisch-ästhetische Experimente werden mit performativen und technisch- medialen Elementen in eine Auseinandersetzung gebracht. Der Akt des Auf- bauens und Zerstörens einer Anordnung hält die Kinder und Zuschauer in Bann. Es ist dann nicht mehr eine Sache, die sich gegen Technik und Wissenschaft verhält, sondern mit den Mitteln von Wissenschaft und Kunst zu eigenen Artiku- lationen und Ausdrucksformen er-finden kann und dabei die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeiten und Möglichkeiten zum Thema macht. Unsere Performancemacherinnen drücken ihren Anspruch wie folgt aus:
In diesem Projekt werden Kindern keine erwachsenen Worte in den Mund gelegt, sondern Kinderideen werden zu ‚erwachsenen‘ Ideen, weil sie eine Phantasiewelt eröffnen, von der wir profitieren können und weil sie Teil einer Gesamtkonzeption sind, die gerade mit der Phantasie bzw. den Assoziationen des Zuschauers spielt. (Meyer-Keller/Müller 2009: 193)
Projekte, die mit Kindern professionell künstlerisch on stage arbeiten, gehen ei- ne Gratwanderung ein, wenn sie Kinder einerseits als Kinder und als ‚Experten‘ einsetzen, ohne sie andererseits instrumentalisieren zu wollen. Die Chance sol- cher Projekte besteht darin, dass sie Kinder an den Bedingungen und Möglich- keiten der erwachsenen Welt teilhaben lassen, durch und in den Medien/Künsten potenziell Fremdes im Sinne anderer Sichtweisen zu erfahren. Die Philosophie lehrt uns, dass es in der Frage, Abwesendes sicht- und hörbar zu machen, unter- schiedliche Grade gibt. Wie Kinder sich und Welt sehen, haben unsere Performancemacherinnen in der letzten Inszenierung mit Berliner Kindern am Hebbeltheater Berlin Hau3 aufgeführt mit Blick auf ihre gegenwärtige Zukunft.(5)
Anmerkungen
1. Vgl. die Überlegungen von Jörg Zirfas zu Scheuerls pädagogischer Theorie des Spiels von 1954 und Zirfas’ Versuch, die Kriterien an das Theaterspielen in der Schule anzu- legen (in: Liebau/Zirfas (Hg.) 2008: 130 f.), sowie Bilstein/Neysters (Hg.) (2013).
2. Vgl. die Ausführungen von Bernhard Waldenfels zum Verständnis von Finden und Erfinden. Er begreift eine Erfindung als einen Prozess des Erfindens und den Fund als Resultat dieses Prozesses. Der Prozess orientiert sich am Vorgefundenen und folgt ei- ner Umgestaltung oder Umstrukturierung im Prozess des Erfindens (in: Waldenfels 2004: 162 ff.; vgl. Westphal 2009: 171).
3. Burghardt und Zirfas (2014) untersuchen, wie sich diese Frage in Japan verhält.
4. In der Moderne sind es die Massenmedien, die Katastrophenszenarien vermitteln. Die Medienkunst nimmt dabei eine besondere Position ein, insofern sie sich den Fragen mit ihren eigenen Mitteln stellt (vgl. Kwastek 2007: 210).
5. Vgl. den Abschnitt „Zukunft“ im Beitrag von Meyer-Keller/Müller in diesem Band; S.185-193
Literatur
- Bilstein, Johannes/Neysters, Silvia (Hg.) (2013): Kinder entdecken Kunst. Kul- turelle Bildung im Elementarbereich, Oberhausen: Athena.
- Burghardt, Daniel/Zirfas, Jörg (2014): „Kunst und Katastrophe. Perspektiven aus ethnographischen Schulbesuchen in der Krisenregion Tōhoku“, in: Kristin Westphal et al. (Hg.), Räume Kultureller Bildung. Nationale und transnationale Perspektiven, Weinheim und Basel: Juventa/Beltz (i. D.).
- Burk, Karin (2009): „Aspekte der Geste im Kindertheatermodell Walter Benja- mins“, in: Westphal/Liebert, Gegenwärtigkeit und Fremdheit, S. 185–192. Kwastek, Katja (2007): „An den Grenzen der Darstellbarkeit. Katastrophen als Thema der Medienkunst“, in: Jürgen Schläder/Regina Wohlfahrt (Hg.): AngstBilderSchauLust. Katastrophenerfahrungen in Kunst, Musik und Thea- ter, Berlin: Henschel, S. 196–211.
- Lippitz, Wilfried (2003): „Selbständige Kinder im Kontext ihrer Lebenswelt“, in: Ders., Differenz und Fremdheit, Frankfurt a. M.: Peter Lang, S. 193 ff. Meyer-Keller, Eva/Müller, Sybille (2009): „Bauen nach Katastrophen. Eine Performance von Kindern für Erwachsene“, in: Westphal/Liebert, Gegenwärtigkeit und Fremdheit, S. 193–202.
- Liebau, Eckart/Zirfas, Jörg (Hg.) (2008): Die Sinne und die Künste, Bielefeld: transcript.
- Waldenfels, Bernhard (2004): Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Westphal, Kristin (2009): „Zur Aktualität der Künste im Morgen. Am Beispiel von Theater mit Kindern für Erwachsene“, in: Dies./Liebert, Gegenwärtigkeit und Fremdheit, S. 171–184.
- Westphal, Kristin/Liebert, Wolf-Andreas (Hg.) (2009): Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Künste und Wissenschaft im Dialog über Bildung, München/Weinheim: Juventa.
- Westphal, Kristin (2014): „Theater als Ort der Selbstermächtigung. Am Beispiel Gob Squad: Before your very Eyes“, in: Dies./Wolf-Andreas Liebert (Hg.): Performances der Selbstermächtigung, Oberhausen: Athena.