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THEATER ALS VERSUCHSAPPARATUR. DRAMATURGIE DER VERSCHRÄNKUNG IN EVA MEYER-KELLERS LIVING MATTERS

von Julia Schade

Was haben ein Theater und ein Mikroskop gemeinsam? Und was ist der Unterschied zwischen einer zerquetschten Himbeere und einer Krebszelle? In Eva Meyer-Kellers Performance Living Matters (1) (2019) sind solche Gegenüberstellungen und Analogien kein harmloses Gedankenspiel, sondern führen uns direkt in eine szenisch-kritische Auseinandersetzung mit dem Machtgefüge anthropozentrischer Schauanordnungen und ihrer Objektivierungsansprüche. In der Performance, in der Trauben unter dem mikroskopischen Blick zu fluoreszenten Tiefseemonstern mutieren und Tampons Zellteilung performen, werden vermeintlich rein deskriptiv operierende naturwissenschaftliche Verfahren rigoros auf ihre normativen Strukturen und Vorannahmen befragt – aber auf eine Weise, die das theatrale Guckkastendispositiv, in dem sie stattfindet, dabei immer mitdenkt.

Die Performance bildet den zweiten Teil einer Trilogie, in deren Rahmen sich die Künstlerin mit Verfahrensweisen der Naturwissenschaften beschäftigt. Während sich die Arbeit Some Significance von 2017 mit physikalischen Visualisierungstechniken und -modellen zur Abbildung von nicht sichtbaren Einheiten und Prozessen auseinandersetzte, steht im Zentrum von Living Matters der Beobachtungsapparat der Mikro- und Molekularbiologie – und eben derjenige des Theaters.

Mit der Hinterfragung subjektzentrierten Denkens, dem Interesse an Materialität, Verschränkung und mehr-als-menschlichen relationalen Darstellungsweisen bewegt sich die Performance in einem Diskursfeld von Denkerinnen des kritischen Posthumanismus und des Neuen Materialismus wie Donna Haraway und Karen Barad, ist aber als künstlerische Arbeit alles andere als eine bloße Illustration dieser Theorie. Ihr Einsatz besteht darin, entanglement als Herausforderung an die (theatrale) Darstellung zu begreifen und eine Dramaturgie der Verschränkung zu entwerfen, die Relationalität nicht nur als Gedankenexperiment, sondern als szenische Praxis der Verantwortlichkeit gegenüber, mit und durch den (mehr-als-menschlichen) Komplizinnen versteht – egal, ob es sich dabei um eine Himbeere oder um die Ko-Performerinnen handelt.

Im Rückgriff auf skopische Verfahren der Naturwissenschaften inszeniert Living Matters das Dispositiv des Theaters als Versuchsapparatur, in der der objektivierende untersuchende Blick und seine Visualisierungsverfahren selbst im Fokus stehen. Dem entgegen setzt sie eine Dramaturgie der Verschränkung und der Verantwortlichkeit, der es nicht um Kategorisierung, sondern um Bezug, nicht um Entitäten, sondern um deren In-Relation-Sein geht.

What’s the matter

Die Premiere von Living Matters auf PACT Zollverein in Essen beginnt mit einem einzigen Wort. „what“ erscheint in kleinen weißen Buchstaben an der Rückwand im schwarzen Nichts der Bühne. Ein wenig verloren wirkt es, als hänge es in der Luft. Weitere Buchstaben kommen dazu: „what counts in life is“, steht nun da. Erst jetzt bemerke ich das kleine leuchtende Apple-Zeichen eines Laptops und die Umrisse einer Performerin, die davorsitzt und jene Wörter offensichtlich gerade tippt, deren semantischem Entstehungsprozess wir qua Videoprojektion live beiwohnen. Durch Tilgen und Abänderung, Hinzufügen und Umschreiben entstehen in den nächsten Minuten eine ganze Reihe von Variationen jenes Satzes und der Begriffe ‚matter‘ und ‚life‘. Immer wieder bilden sich neue, andere Wortformationen und -bedeutungen. Aus „what counts in life is“ wird „life is what counts in“, aus „counting life“ wird „accounting for life“. „What’s the matter“ wird zu „you are matter to me“, „matter in its self-replicant form is a living being”. Wissenschaftliches Vokabular von Zählbarkeit und Kategorisierbarkeit transformiert sich in dieser semantischen Verschiebung zu solchem von Verantwortlichkeit und Sorge um das als lebende Materie Kategorisierte und um dasjenige, was am Rande dieser Bestimmung liegt oder eben ganz aus ihr ausgeschlossen ist. ‚Matter‘ wird hier nicht einfach synonym mit Materie verwendet, sondern oszilliert zwischen der Implikation ‚Substanz/Materie‘ und derjenigen von ‚Bedeutung‘ im Sinne von ‚von Gewicht/ Bedeutung sein‘. So wird gleich zu Beginn von Living Matters klar, dass die im Raum stehende Frage nicht nur diejenige nach der Bedeutung von lebender Materie ist, von Materie als Bedeutendes oder selbst Bedeutung stiftender Instanz, sondern auch diejenige danach, welches Leben als solches zählt, bedeutet, von Gewicht ist.

Fadenspiel: Theater als Versuchsapparatur

Als das Licht angeht, befindet sich in der Mitte der Bühne eine ausgeleuchtete, auf den ersten Blick unordentliche Ansammlung sehr unterschiedlicher Materialien und Gegenstände. Vor zwei Rollschränken und auf einer grünen Plastikmatte liegen aufeinandergestapelt oder in kleinen Haufen aufgetürmt Scheinwerfer, Kamerastative, etliche Kabel und Steckdosen, zwei Lautsprecher und mehrere Rollen bunter Plastikfolie, ein Mülleimer und ein Laptop. Statt aber von etwaigen Performerinnen ‚aufgebaut‘ oder ‚installiert‘ zu werden, beginnen sich die Materialien plötzlich langsam auseinanderzubewegen. Wie von Geisterhand teilt sich das vermeintlich wahllos aufeinandergehäufte Ensemble von Dingen, Elektrogeräten, Kabeln und Requisiten genau symmetrisch in seiner Mitte: Jeweils ein Rollschrank, eine grüne Matte und ein Lautsprecher gleiten sukzessive aus der Mitte hinweg. Erst jetzt wird sichtbar, dass es kaum wahrnehmbare dünne grüne Schnüre sind, die an den Materialien befestigt sind und mithilfe derer diese in die jeweils rechten und linken unbeleuchteten Bühnenränder gezogen werden, bis sie nicht mehr zu sehen sind. Der ganze Prozess geht mit ungeheurer Langsamkeit vor sich. Fast schon mit Spannung beobachte ich, wie sich der große Rollschrank peu à peu und gefährlich schwankend von der Mitte wegbewegt, wie sich die einzelnen Schlaufen des Kabelhaufens entfalten und die Variation aus Werkzeug und Plastikkisten am vorderen Rand der Bühne vorbeigleitet. Offensichtlich ist bereits an dieser Stelle, dass die Aufmerksamkeit der Performance auf dem Bewegungsgefüge dieser Dinge und ihrer Eingebundenheit in den Gesamtapparat liegt. Dieser Fokus auf die Eigenlogik von Versuchsanordnungen und der darin verwendeten besonderen Materialität ist bereits in früheren Arbeiten Eva Meyer-Kellers zentral. In Death is Certain (2002) exerziert sie innerhalb einer in ihrer Ästhetik und Funktionalität zwischen konzentrierter Kochshow und wissenschaftlicher Laborsituation hin und her oszillierenden Versuchsapparatur verschiedenste Tötungsarten an Kirschen durch. In Pulling Strings (2014) und Deus ex Machina (2014) sind verschiedenste (Alltags-) Gegenstände und Prozesse eingebunden in ein Kausalitätsgewebe aus unsichtbaren Schnüren, mit denen sie mobilisiert, bewegt und miteinander in Beziehung gesetzt werden – ein Motiv, das in Living Matters nun also wiederauftaucht.

Tastende Horizontalität

Sobald der Teilungsprozess der Requisitenansammlung beendet und alle Gegenstände aus dem Sichtfeld und in die Dunkelheit der Bühnenränder verschwunden sind, beginnen sich jeweils zwei Performerinnen in Richtung Bühnenmitte zu bewegen. Sie tragen bunte Alltagskleidung in leuchtendem Orange und Lila sowie Turnschuhe, über die Schutzhüllen gestülpt sind, wie man sie aus medizinischen Operationsräumen oder wissenschaftlichen Laboren kennt. Ihre Bewegung geschieht jedoch auf sehr spezifische Weise, nämlich horizontal: Auf ihrem Rücken liegend schieben sie sich mit der Kraft ihrer in den Boden gestemmten Füße rückwärts, mit dem Kopf zuerst, der Mitte entgegen. Ihre angewinkelten Beine bewegen sie dabei fast krebs- oder spinnenartig, während die Arme rechts und links am Körper mitgeschleift werden. Über die nächsten 90 Minuten gleiten die vier Performerinnen ausschließlich auf diese horizontale Art über die Bühne. Dabei können sie ihr Ziel allerdings niemals direkt anvisieren, da der Kopf in dieser Rückenlage immer in die entgegengesetzte Richtung der Füße blickt. Das Resultat ist eine vorsichtig tastende Bewegung. Treffen die Körper unterwegs auf einen Widerstand, weichen sie diesem entweder aus, indem sie ihre Hüften gerade so viel heben, dass sie sich über jenen hinwegschieben können, oder sie ‚docken‘ an die Hindernisse an, indem sie in dem Moment, in dem sie beispielsweise eine der Gummimatten erreichen und berühren, sich seitlich zu ihr platzieren und dort liegenbleiben. Stoßen sie wiederum auf eine andere Performerin, winden sie sich aneinander vorbei. Deutlich wird die klare Vermeidung von Vertikalität: Während der gesamten Performance wird auf eine aufrechte Körperhaltung verzichtet – als blicke man bereits von oben auf eine Petrischale, in der sich die Körper wie Moleküle bewegen.

Und tatsächlich zeigt eine Projektion auf der hinteren Wand das Bühnengeschehen nun aus der Vogelperspektive. Offensichtlich ist unter der Decke eine Kamera angebracht, die von oben filmt und so einen Überblick über das bunte Ensemble von Objekten sowie das geschäftige Räumen, Aufbauen und Neuordnen dieser auf der Bühne liefert. Das Chaos entpuppt sich von oben aus gesehen plötzlich doch als ein wohl komponiertes und nach Farben geordnet Ensemble – weniger zufällig zusammengeschoben, als vielmehr sorgfältig angeordnet. Es ist diese Perspektivverschiebung innerhalb des Theater- und Versuchsapparats, die im weiteren Verlauf der Performance entscheidend ist, gerade weil sie immer wieder auf verschiedene Weise ein Irritationsmoment produziert.

Horizontal sich über die Bühne schiebend nehmen die Performerinnen weiter den Aufbau der Gegenstände vor: ein Mikroskop, einen Laptop, allerlei Lebensmittel wie Obst und Saft, Werkzeuge, etwaige Kisten, Haartrockner, Gummihandschuhe, Mülltüten, Petrischalen, eine Rolle Küchenpapier, einen Wasserkocher, einen Monitor. In diesem merkwürdigen Sammelsurium aus banalen Alltagsgegenständen und technischen Gerätschaften hat offensichtlich jedes dieser Dinge eine Gleichwertigkeit gegenüber den anderen, jedes ist auf seine Art und Weise augenscheinlich von Bedeutung und wird eine bestimmte Funktion und Rolle innerhalb der nun installierten Ordnung einnehmen. Zwei Scheinwerfer werden auf der rechten Seite installiert, ein Mikroskop an eine Kamera angeschlossen. Eine der Performerinnen platziert mit großer Konzentration Äpfel, Birnen, eine Brombeere, Kirschen und Weintrauben säuberlich nebeneinander auf einer der grünen Matten, die Petrischalen, kleine Schwämme und Werkzeuge, wie Skalpell und Pinzette legt sie daneben. Alles wirkt, als werde hier eine äußerst wichtige Versuchsanordnung bis ins kleinste Detail nach einem dem Publikum unbekannten Schema aufgebaut. Die Performerinnenhaltung ist dabei konzentriert und nimmt vom Publikum keine merkliche Notiz. Sie bewegen sich auf eine Weise, die „als neutral oder funktional bezeichnet werden könnte, auf jeden Fall aber darauf angelegt ist, ihre Aufgabe in keiner Weise zu kommentieren“(2) , wie es Tim Etchells in Bezug auf Eva Meyer-Kellers Haltung in Death is Certain beschreibt, hier aber ebenso zutrifft: Die Performerin „tut, was zu tun ist, nicht mehr und nicht weniger“. (3)

Verschränkungen: Visualisierungen und Prozesse

Eva Meyer-Keller, die sich blaue Laborhandschuhe übergezogen hat, sitzt vor dem Mikroskop und beginnt, mit einer Pipette eine Flüssigkeit in eine Petrischale zu tropfen. Selbst lediglich ein kleines Detail inmitten des Räumens und Anordnens, wird diesem Vorgang dennoch genau in demjenigen Moment eine besondere Aufmerksamkeit zuteil, in dem die Projektion umspringt und auf der hinteren Wand nun eine vibrierende weiß gepunktete Masse erscheint, in der sich undefinierbare kleinste Partikel zuckend fortbewegen. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, worum es sich dabei handelt. Es ist der Blick durch die digitale Mikroskopkamera auf die sich darunter befindende Petrischale, in die Keller gerade eine Flüssigkeit gegeben hat – gewissermaßen also eine Live-Schaltung in die Versuchsanordnung und auf das Untersuchungsobjekt. Der Perspektivwechsel wirkt überraschend: Von der vorherigen eine beruhigende Gewissheit des Überblicks vermittelnden Vogelperspektive zu einer Ästhetik der enormen Vergrößerung, die eben dadurch verunsichert, dass sie das Untersuchungsobjekt – das durch den enormen Zoomeffekt in seine minimalkleinsten Partikel zerlegt wird – unerkennbar werden lässt.

Zuckende Materie

Die sich nun bewegende, zuckende Masse übt dabei eine merkwürdige Faszination aus. Aufmerksam verfolge ich die Bewegungen der weißen Teilchen, die auf der Oberfläche hin und her tänzeln – worum es sich dabei jedoch handelt, bleibt unklar: mikroskopische Aufnahmen von weißen Blutkörperchen oder doch schlicht Styroporteilchen in Wasser? Plötzlich beginnt sich die Flüssigkeit blutrot zu färben. Immer mehr der weißen Teilchen scheinen sich vollzusaugen, quellen auf und verschwinden schließlich in der nun immer mehr Raum einnehmenden roten Substanz. Das Prozedere wiederholt sich in unterschiedlichster Variation immer wieder mit immer anderen Untersuchungsobjekten und -substanzen, die Meyer-Keller unter dem Mikroskop untersucht und deren enorme Vergrößerung wir qua Projektion beobachten können. Immer wieder bilden sich neue Formationen von Teilchen, Zellen und Flüssigkeiten, die sich aus unerfindlichen Gründen in Bewegung setzen, um sich zu einer neuen zusammenzufinden. Mal ist es eine leuchtend gelbe Substanz (eine Orange? Eine Khaki?), die unter dem hellen Mikroskoplicht fast transparent wirkt. Ohne zu wissen, worum es sich genau handelt, assoziiere ich Fasern, Zellen und Gewebestruktur. Plötzlich scheint das Gewebe anzuschwellen und sich auszubreiten, die einzelnen Fasern winden sich wie Würmer und streben der Mitte entgegen. Kleinste Partikel lösen sich von der gelben Masse und schwimmen von einer unsichtbaren Kraft angezogen an eine andere Stelle, verbinden sich dort mit anderen winzigen Elementen. Vollkommen abgelenkt vom weiteren Geschehen auf der Bühne verfolge ich gebannt die Teilchen-Choreographie: Die Formation aus Flüssigkeit und gelben Partikeln gerät nun in Aufruhr, bricht auf und wird wie von einem gewaltigen Stoß davongeschwemmt.

Ein anderes Mal beobachte ich, wie eine der neben dem Mikroskop sitzenden Performerinnen eine Brombeere auf eine neue Petrischale legt und offensichtlich von oben auf diese drückt, denn auf der Projektion ist nun in enormer Vergrößerung zu sehen, wie plötzlich das Fruchtfleisch aufreißt, roter Saft daraus quillt und zu einer blutroten Masse anschwillt, innerhalb derer nun einzelne weißliche Zellen in tanzende Bewegung geraten und sich über den gesamten Bildausschnitt verteilen. Nichts mehr erinnert nun noch an die ursprüngliche Brombeere, sondern ähnelt eher an durch bewusstseinserweiternde Drogen verursachte Farbexplosionen oder gar an Aufnahmen von menschlichem Gewebe.

Schauanordnungen

Living Matters setzt zunächst eine klassische naturwissenschaftliche Versuchsanordnung in Szene, der ich lediglich als externe Beobachterin beizuwohnen scheine und in der die Performerinnen nicht nur als Mikroskope bedienenden Wissenschaftlerinnen fungieren, sondern selbst zu beobachteten Teilchen in der Schauanordnung des Theaterdispositivs werden. Bereits das Programmheft kündigt an, dass die Blickanordnung des Labors mit derjenigen des Theaters zusammengedacht werden soll. Nachträglich wird immer offensichtlicher, dass die horizontalen Bewegungen der Performerinnen diejenigen Bewegungen der kleinsten Zellteilchen zitieren und selbst immerfort den Vorgang der Mitose, der Zellteilung vollführen. Weder mikroskopisch vergrößerte Zellteilchen noch Performerinnen scheinen dabei Notiz zu nehmen von der Beobachtungssituation, der sie ausgeliefert sind. Wichtig zu betonen bleibt auch, dass keine der Formationen dabei eine besondere Gewichtung erhält. Vielmehr liegt das Augenmerk auf dem unendlichen Prozess selbst, in den stets alle Bühnenelemente gleichberechtigt eingebunden sind. Darüber hinaus spielt aber auch das Bildhafte der naturwissenschaftlichen Visualisierungsverfahren eine große Rolle.

Die vermeintlich klare Schauanordnung erweist sich bei näherer Betrachtung als komplexe Mise en abyme des biologisch-mikroskopischen Blicks, der mit demjenigen der Zuschauer*innen innerhalb des Theaterraums verwoben wird. Der naturwissenschaftliche Beobachtungsapparat verschränkt sie so mit demjenigen des Theaters, spiegelt und unterbricht ihn und stellt ihn auf diese Weise aus.

Meyer-Keller begründet ihr Interesse an der Logik und Ästhetik naturwissenschaftlicher Modelle und Visualisierungsverfahren vor allem in dem Umstand, dass diese zwar dasjenige darzustellen behaupteten, was das menschliche Vorstellungsvermögen überschreite, genau darin aber selbst zu Fiktionen einer Abbildbarkeit würden.(4) Wie bereits in Some Significance (2017) geht es ihr auch in Living Matters um die diese Fiktion generierende Apparatur und deren Theatralität.

In Living Matters fügt sich so der wissenschaftliche Versuchs- und Beobachtungsapparat in ein klassisches Guckkastendispositiv, arbeitet aber eben durch jene Verschachtelung der Blickordnung die Frage der Positionierung und der Objektivierungsbehauptung der neutralen Beobachtung besonders heraus. Die Frage, wer hier eigentlich wen oder was und in welchem Rahmen beobachtet und welche Prozesse dabei eben nicht erfasst werden können, weil sie sich außerhalb des Observierungsrahmens abspielen, zieht sich durch die gesamte Inszenierung. Die widerständige szenische Strategie liegt unter anderem darin, die Privilegierung des neutralen wissenschaftlichen Blickes zu unterminieren, dessen Objektivierungsbehauptung auszustellen und dabei die Verschränkung von Beobachter*in und optischer Apparatur hervorzuheben. Insofern steht dem vermeintlich objektiv-wissenschaftlichen Erfassen auch immer dasjenige gegenüber, was sich außerhalb des von ihm vorgegebenen Experiments und seinem Rahmen abspielt. So wird auf jeder der genannten Beobachtungsebenen immer auch klar, was aus dem jeweiligen gesetzten Rahmen ausgeschlossen und was in der spezifischen Perspektive eben nicht wahrgenommen werden wird.

Der wissenschaftliche Blick, der einer überzeitlichen und überhistorischen gottgleichen Perspektive gleichkommt, wird dabei durch eine besondere Horizontalität des Szenischen verstärkt und ausgestellt. Das gesamte Bühnengeschehen scheint sich der Frontalität der Theatersituation regelrecht zu verweigern und sich stattdessen nach einem fiktiven Blick ‚von oben‘ auszurichten, als würde die Bühne selbst zur Petrischale, die von einem unbenannten Außen – einem Außen außerhalb des Theaterraums – observiert würde. Die klare szenische Setzung der Horizontalität kann zum einen als Abkehr von anthropozentrischer Vertikalität verstanden werden, dem die Inszenierung nicht-menschliche Formen und Zeitlichkeiten des entanglement entgegenstellt. Zum anderen macht sie den optischen Apparat wissenschaftlicher Beobachtung durch Wiedereinschreibung seiner Objektivierungsstrategien selbst sichtbar. Die bildhaften Visualisierungsverfahren der Laborforschung werden so mit der Apparatur der Theaterbühne zusammengebracht.

Eingebunden-Sein: Dramaturgie der Verschränkung

So sehr Eva Meyer-Keller einerseits durch die beschriebenen Perspektivwechsel das skopische Prinzip ausstellt, so sehr setzt sie andererseits dieser Privilegierung des Visuellen ein dramaturgisches Verfahren entgegen, das sich durch eine spezifische Orientierung an der Materialität der verwendeten Objekte und Substanzen auszeichnet. Mehr noch möchte ich hier von einer Dramaturgie der Verschränkung sprechen, die ihren Impuls, ihre Dynamik, ihre Zeitlichkeit nicht aus den optischen Beobachtungsverfahren von etwas zieht, sondern vielmehr aus den untersuchten Gegenständen und deren spezifisch materieller Beschaffenheit und Eigenschaften heraus. Dabei ist zu betonen, wie vorsichtig, konzentriert und verantwortungsvoll diese Begegnungen von menschlichen mit nicht-menschlichen Akteuren, Körpern und Materialitäten verläuft, als gelte es bei jedem Aufeinandertreffen zunächst die jeweilige Beschaffenheit zu erkunden, um dann eben aus dieser heraus den nächsten Schritt, den nächsten Bewegungsablauf zu entwickeln. Der instrumentelle Aspekt der Gegenstände tritt dabei hinter der Verschränkung zurück und erzeugt so eine Gleichgewichtigkeit von menschlichen und nicht-menschlichen Prozessen. Im Vordergrund stehen so weniger einzelne Bewegungsabläufe oder der Umgang mit bestimmten Objekten innerhalb des Versuchsapparats als vielmehr das relationale Geflecht der Verschränkung zwischen ihnen. Zwar sind die bildhaften Verfahren des Mikroskops immer noch von Belang, doch stehen nun eher die Prozesse im Vordergrund.

Der Detailreichtum und die Sorgfalt, mit der Gegenstände und Objekte, Substanzen und Performerinnenkörper sich in dieser Verschränkung anordnen, bewegen und sich begegnen, stehen im diametralen Gegensatz zum kalten mikroskopischen Blick, dessen Fiktionalisierung der Ansichtigkeit und Abbildbarkeit darin umso stärker hervorgehoben wird. Zwar wird in der vielfachen Verschachtelung der Blicke die Bühne zur beobachtbaren Petrischale. Doch was sich in dieser skopischen Mise en abyme schließlich einstellt, ist der Eindruck, dass trotz der offensichtlichen Dominanz von Verfahren zur Sichtbarmachung die jeweils singuläre Zeitlichkeit der Verschränkung der Bewegungen und Prozesse nicht greifbarer wird. Sie bleibt eben darin so faszinierend, weil sie sich nicht in Parametern der Sichtbarmachung übersetzen lässt. Zum einen stellt die Performance gerade optische Verfahren in den Mittelpunkt, die der Sichtbarmachung von Unsichtbarem dienen, zum anderen wird aber eben darin umso deutlicher, was eben diesen skopischen Verfahren entgeht oder durch sie verstellt wird: Die untrennbare Verschränkung des skopischen Blicks mit der Apparatur seiner Beobachtung und den Untersuchungsobjekten – und damit eben die Verschränkung der theatralen Blickordnung mit den szenischen Vorgängen. Oder anders formuliert: Die Performance zeigt dadurch zum einen den Anthropozentrismus des skopischen Blicks und dessen Beschränktheit auf, zum anderen lenkt sie eben darin die Aufmerksamkeit auf posthumane, mehr-als-menschliche Darstellungsweisen und Zeitlichkeit. Das Mikroskop verliert seinen Status als naturwissenschaftlich-objektive Visualisierungstechnik, die kleinste, sonst für das bloße Auge nicht sichtbare Prozesse, abbildet. Dagegen erweist es sich vielmehr selbst als partiale Perspektive im Sinne Haraways: Die Inszenierung stellt den Objektivierungsprozess als Illusion einer von ihrer Beobachter*in vermeintlich gänzlich unabhängigen Sicht aus und hebt die unauflösbare Verbundenheit dieser mit dem Objekt der Betrachtung hervor. Im Fokus steht folglich die Verschränkung von Materialität, den äußeren Bedingungen des Experiments und den menschlichen und nicht-menschlichen Faktoren. Materie wird in dieser Inszenierung nicht einfach als Objekt der Untersuchung, sondern als eine mit der Apparatur der Versuchsanordnung selbst verschränkte und sie beeinflussende gedacht.

Die dramaturgische Setzung liegt nicht zuletzt in ihrem Fokus auf die je singuläre Materialität der verwendeten Gegenstände, Dinge und Substanzen, mit denen gearbeitet wird: Living Matters entwirft damit eine Dramaturgie relationaler Verantwortlichkeit, in der nicht einzelne Akteure oder Gegenstände und deren Sichtbarkeit im Vordergrund stehen, sondern die szenischen Prozesse als entanglement gedacht werden – als untrennbare Verschränkung menschlicher und nicht-menschlicher Akteure mit der Versuchs- und Theaterapparatur. Jeden noch so alltäglichen, nebensächlichen Gegenstand aus dem Arsenal der angeordneten Objekte – ob Haartrockner oder Brombeere – eint damit der Status des Eingebunden-Seins in das relationale Gefüge der szenischen Apparatur. Und es ist eben diese Dramaturgie der Verschränkung, die nicht auf maximale Sichtbarkeit, sondern auf Verantwortlichkeit gegenüber ihren und ihrem Mitwirkenden setzt. Und das ist bei Eva Meyer-Keller und ihren Kompliz*innen eben nicht nur ein theoretisches Vorhaben, sondern tatsächlich solidarische Praxis.

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1/ Meyer-Keller, Eva: Living Matters 2019. Ich habe die Performance am 16.11.2019 auf PACT Zollverein gesehen. Konzept & Performance: Eva Meyer-Keller. Ko-Kreation & Performance: Tamara Saphir, Annegret Schalke, Agata Siniarska. Musik: Rico Lee, Dramaturgische Zusammenarbeit: Constanze Schellow Assistenz: Emilia Schlosser. Recherchepartnerin: Ilya Noé. Kostüm & Requisite: Sara Wendt. Wissenschaftliche Forschung: Simone Reber und Forschungsteam. Licht: Annegret Schalke. Technische Leitung: Björn Stegmann. Produktion: Ann-Christin Görtz. Koproduktion: PACT Zollverein (Essen), Sophiensæle (Berlin).

2/ Etchells, Tim: »In einer Hinsicht niemals anders und in anderer Hinsicht niemals gleich. Einige Gedanken zu Eva Meyer-Kellers komischer Tragödie ‚Death is Certain‘«, in: Gerstmeier, Joachim/Müller-Schöll, Nikolaus (Hg.): Politik der Vorstellung, S. 160–178, hier S. 163.

3/ Ebd.

4/ Dies beschreibt sie in einem von mir mit ihr geführten Gespräch am Telefon am 17.01.2020.



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