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KATASTROPHENKOMPOSITIONEN / SOUNDS LIKE CATASTROPHES Dokumentation einer Produktion von Eva Meyer-Keller und Sybille Müller

von Pirkko Husemann

Ein Probenstudio in der Berliner Uferstudios. An den Wänden ringsum zahlreiche Bilder von Katastrophen an der Wand, sortiert nach Kategorien wie „air accidents“, „environmental accidents“, „industrial accidents“ usw. Außerdem ein langer Tisch mit diversen Haushaltsgegenständen, Lebensmitteln und sonstigen Utensilien, ebenfalls sortiert nach Kategorien wie „puderig, körnig, fest, weich usw. Zum fünftägigen Workshop der Berliner Choreografinnen Eva Meyer-Keller und Sybille Müller kommen sechs Kinder im Alter von neuneinhalb bis vierzehn Jahren, vier Jungs, zwei Mädchen. Ziel des Workshops ist es, in der darauffolgenden Woche im Rahmen der 8. Tanznacht Berlin eine Vorstellung vor erwachsenem Publikum zu präsentieren.

Ein Gespräch unter den Jungs, die die Bilder betrachten:

Ey, Alter! Schau mal, wie ein Kung-Fu Handschlag.(lacht)

Oder hier: Öl ausgelaufen, Explosion.

Ey, hier gibt’s auch noch geile Bilder! Domino, Dominosteine, Dominoeffekt. Autsch!

Und guck mal, hier hat einer Golf gespielt, da wurde einer vom Golfball am Kopf getroffen.

Coole Sauna. Aber cool kann man dazu nicht sagen.

Erdrisse, hardcore!

Das sieht richtig cool aus mit dem Schaum.

2013. Es gibt keine Bilder von 2014, noch nicht.

Gibt es eigentlich auch Vulkanausbrüche? Ah ja, den hier hatte ich mal in der Schule. Den Mount Helens, da ist die ganze Nordflanke abgesprengt worden und das war eine Kraft von 500 Atombomben gleichzeitig.

Guck mal hier, ein Wasserstrudel.

Ein Schiff. Das ist ein untergegangenes Schiff. Dann gab’s Ebbe.

Diese Situation bildet den Ausgangspunkt einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Klang von Katastrophen, der von den beteiligten Kindern in Form von „Katastrophenkompositionen“ entwickelt und zur Aufführung gebracht wird. Was aber ist eine Katastrophenkomposition? Die Antwort auf diese Frage lässt sich nur über eine Reihe weiterer Fragen finden: Welche Katastrophen gibt es? Wie hören sie sich an? Wie und womit können diese Geräusche erzeugt werden? Und wie müssen die „Musiker“ instruiert werden, um mit ihren „Instrumenten“ eine entsprechende Komposition zu erzeugen? Meyer-Keller und Müller haben eine experimentelle Versuchsanordnung sowie zahlreiche Übungen entwickelt, um diese Fragen gemeinsam mit der Kindern zu beantworten und sich dem großen Thema über die sinnliche Wahrnehmung anzunähern. Zunächst wird der Klang von Materialien untersucht. Mit verbundenen Augen versuchen die TeilnehmerInnen zu erraten, was sie in der Hand halten. Sie beschreiben, wie sich die Gegenstände anfühlen und welche Geräusche ihnen zu entlocken sind. Zum Beispiel eine Tüte Chips. Die ist aus Plastik, leicht, und gefüllt. Sie knistert, und wenn man den Inhalt mit den Fingern zerdrückt, knirscht es. Lässt man die geschlossene Tüte auf den Boden fallen, macht das ein kurzes, aber recht lautes Geräusch. Im nächsten Schritt, versuchen die Kinder mit dem Sammelsurium an verfügbaren Materialien, „Wetter oder Landschaft als Klang“ zu erzeugen. Ein halbwegs glaubhaftes Gewitter lässt sich beispielsweise mit Reis, einem Stück Pappe, einem Backblech, einem Plastikeimer und einer Rolle Mülltüten inszenieren. Lässt man den Reis auf die Pappe rieseln, klingt das wie Regen. Wirft man das Backblech auf den Boden, dann hört sich das mit etwas Fantasie wie der Einschlag eines Blitzes an. Wirft man die Rolle Mülltüten in den Plastikeimer, dann meint man, ein Donnern zu hören.Im Anschluss an diesen ersten Versuch der spontanen „Komposition“ werden solche akustischen Szenarien von dem Musiker Rico Repotente mit Mikrofonen aufgenommen und über Lautsprecher abgespielt. Aus dem Prasseln der Reiskörner wird je nach Art des Mikrofons ein heftiger, aber kurzer Starkregen, das Backblech produziert einen ohrenbetäubenden Knall, der jedoch vom unintendierten Geräusch des Hochhebens gefolgt wird und die Mülltüte im Eimer macht einfach nur einen dumpfen Plumps. Entsprechend sind die Kinder mehr oder weniger zufrieden mit der Suggestivkraft ihrer Kompositionen und versuchen es ein zweites Mal, mit anderen Materialien oder mit einem angepassten zeitlichen Ablauf. Nebeneffekt dieser Übung ist bald die wachsende Lust an der Zerstörung der Materialien und Verschwendung von Lebensmitteln. Am Ende sieht das Probenstudio geradezu verwüstet aus, und es muss gründlich aufgeräumt und gefegt werden. Im Anschluss an diese Erkundung der taktilen und akustischen Wahrnehmung schlagen die Choreografinnen einen Wechsel der Untersuchungsebene vor. Die Gruppe spricht über Katastrophen, welche die Kinder aus Erzählungen, dem Schulunterricht oder den Medien kennen:

Zum Beispiel das Flugzeugunglück mit den Zwillingstürmen. Das war in London glaube ich.

Nee, New York.

Meine Mutter hat noch ne Zeitung, wo ein Bild davon drauf ist. Da laufen Menschen auf der Straße panisch rum, und man sieht im Hintergrund wie die Zwillingstürme brennen. Eine Freundin von ner Freundin von mir, die war da glaube ich beim Reitunterricht oder so, auf jeden Fall unwichtig. Ihre Eltern haben in diesen Zwillingstürmen gearbeitet als die eingestürzt sind. Die haben nicht überlebt.

Wo gibt es den Film?

Das ist kein Film, das ist richtig passiert.

Gibt’s das Video auf Youtube?

Bestimmt.

Bemerkenswert an diesen Erzählungen ist, dass die Kinder spontan nicht nur die Katastrophen, sondern auch ihre Medialisierung reflektieren. Entsprechend werden sie von den Workshopleiterinnen gebeten, ihre Erzählungen durch Zeichnungen zu ergänzen, die dann neben den bereits vorhandenen Bildern von Katastrophen an der Wand des Studios aufgehängt werden. Das bereits 2006 von Meyer-Keller und Müller angelegte Archiv der Katastrophen sowie ihrer Repräsentationen wächst also im Verlauf des Workshops stetig an. Außerdem wird deutlich, dass die Kinder schon den Zusammenhang von ökologischen, sozialen und ökonomischen Faktoren von Katastrophen realisieren und zugleich die eigene Ohnmacht gegenüber der als unausweichlich empfundenen Bedrohung formulieren:

Einstein hat gesagt, dass nach dem dritten Weltkrieg die Menschen nur noch mit Keulen kämpfen. Weil die Menschheit dann so zurückgefallen ist, dass sie Technik gar nicht mehr kennt.

Es wird auf jeden Fall einen dritten Weltkrieg geben. Definitiv. Mit Atombomben natürlich. Dann zerstören wir unsere eigenen Erde, wie dumm sind wir eigentlich?

Ich wette es geht bei dem Krieg ums Wasser oder ums Öl, zumindest um irgendwelche Ressourcen der Erde. Das wird es sein.

Ich glaube ein dritter Weltkrieg wird es nicht, aber es wird auf jeden Fall noch ziemlich viele Kriege geben. Russland wird da mit drin stecken. Ich hoffe ich leb dann nicht mehr.

Ja, das denke ich mir auch immer die ganze Zeit und deswegen überlege ich immer, ob ich dann mal Kinder haben will, später.*

In Momenten, in denen das Gespräch allzu ernüchternd wird, tendieren die Kinder in ihren Erzählungen dann aber immer wieder auch zur Übertreibung. Sie schaukeln sich beim Fantasieren über die Zukunft gegenseitig hoch, erzählen Witze und Lachen gemeinsam darüber:

*Wenn Krieg ist, ist es auch gut, weil dann nicht mehr so viele Menschen auf der Welt sind. Sonst laufen wir doch über, und wir brauchen ja alles. Dann müsste alles massenproduziert werden. Ja, und die Welt wird leider nicht massenproduziert, sonst hätte ja jeder einen eigenen Planeten für sich. Welchen würdest Du nehmen? Ich glaube ich würde die Venus nehmen.

Ich nehme die Sonne.

Ganz schön heiß, Baby.

Dieses Lachen über Katastrophen ist im Prozess nicht nur erlaubt, sondern geradezu erwünscht. Es funktioniert quasi buchstäblich wie ein Überlaufventil und sorgt am Ende dafür, dass die Lacher nur in den Proben, nicht jedoch in den Aufführungen vor Publikum zu hören sind. Im Anschluss an die verbale Auseinandersetzung mit dem Thema der Katastrophen und ihrer Medialisierung kehrt die Gruppe wieder zur Vertonung zurück. Die Kinder erstellen eine Liste an Katastrophen und suchen sich jeweils eine aus, um sie in der Rolle des Dirigenten/in für ein Orchester zu dirigieren. Wirbelsturm, Schiffsuntergang, Feuer und Zugunglück werden in schriftlichte und visuelle Partituren übertragen und dann von den anderen Mitgliedern der Gruppe vertont. Anfangs müssen sowohl die DirigentInnen als auch die Musiker noch sehr oft über ihr Tun lachen, aber mit der Zeit konzentrieren sie sich zunehmend auf die Art der Umsetzung der Aufgabe: Denn die Bürste muss in einem bestimmten Rhythmus über das Schleifpapier gezogen werden, um das Geräusch einer fahrenden Lokomotive zu erzeugen. Und Fahren, Bremsen und Aufprall des Zuges müssen separat erklingen, um das Geschehen glaubhaft zu machen.

Nachdem die jeweiligen Partituren und Materialien sowie das „Musizieren“ und „Dirigieren“ optimiert wurden, werden sie von Meyer-Keller und Müller zum Zweck der Aufführung in eine vorbestimmte Reihenfolge gebracht. Dann werden Abfolge und Übergänge zwischen den einzelnen Kompositionen geübt. Jedes Kind ist jeweils einmal DirigentIn und vier Mal „MusikerIn“, muss sich also im schnellen Wechsel auf fünf Partituren samt der dazugehörigen Materialien und Instruktionen einstellen. Als die Konzentration der Kinder angesichts mancher Pannen und der schieren Menge an Instruktionen nachlässt, kehren die Choreografinnen noch einmal zur Arbeit am Text zurück. Die ursprünglich spontan geäußerten Erzählungen über Katastrophen wurden in der Zwischenzeit von den Workshopleiterinnen transkribiert, gesprochen und augenommen. Nun sollen die Kinder die Texte, die sie per Kopfhörer hören, nachsprechen. Anfangs kriegen sie kein Wort heraus oder weinen vor lauter Lachen Freudentränen. Manchen ist auch die Verwendung von Witzen und Schimpfworten peinlich, selbst wenn ihre Aussagen von anderen gesprochen werden. Deshalb werden die Texte umgearbeitet, manche Aussagen redigiert oder auch gestrichen. Der nächste Anlauf gelingt, die Texte können konzentriert nachgesprochen und entsprechend auch verstanden werden.

Als am letzten Tag des Workshops Kompositionen und Texte schließlich miteinander „verschnitten“ werden, nimmt die Dramaturgie des Stückes Form an. Das Sprechen der Texte, das Produzieren von Klang und das Abspielen der produzierten Klänge werden in getrennten Blöcken präsentiert. So werden das Wissen, Herstellen und Hören von Katastrophen voneinander abgekoppelt, und es bleibt den ZuschauerInnen überlassen, die ursprünglichen Zusammenhänge herzustellen sowie die akustischen Szenarien mit Hilfe der eigenen Imagination nachzuempfinden bzw. über die Bilder aus dem im Probenstudio ausgestellten Katastrophen-Archiv anzureichern. Als die Generalprobe vor Publikum ansteht, sind die Kinder zunächst erschöpft und teilweise unmotiviert, aber die Reaktionen und konstruktiven Kommentare der ZuschauerInnen geben ihnen dann doch wieder Schwung, motivieren sie für die Aufführungen in der darauffolgenden Woche.

Was hast du da drin gerade gesehen?

Den spielerischen Umgang mit den Assoziationen, was passieren könnte. Und klasse war, dass sie das akustisch durchgespielt haben, während man zuschaut und man das dann noch mal hört und in Ruhe nachvollzieht oder für sich selbst durchspielt. Das Hören fand ich intensiver als zu sehen wie es entsteht.

Hast du von den Katastrophen welche wiedererkannt?

Ja! Ja, ja. Den Schiffsuntergang zum Beispiel. Beim Gucken war das Blubbern ja ganz leise und beim Hören war es sehr intensiv, viel größer.

Welche Rolle hatten die Kinder in der Vorstellung?

Sie waren die Macher der Katastrophen. Wie in der Götterwelt. Sie haben die Götter gespielt, die Kraftwirkung erzeugt.

Obwohl am Ende eines der Kinder erkrankt und nicht an den Aufführungen teilnehmen kann, so dass eine der ChoreografInnen für sie einspringen muss, laufen die zwei Nachmittagsvorstellungen im Rahmen der Tanznacht Berlin tadellos. Die Abfolge und Ausführung der insgesamt gut halbstündigen „Katastrophenkompositionen“ ist fast fehlerfrei. Es gibt nur wenige Pannen und entsprechend selten Lacher oder Kommentare seitens der Kinder sowie ein konzentriertes Publikum, das sich aus KlassenkameradInnen, Familienmitgliedern und einem breiten Tanzpublikum zusammensetzt. Im Anschluss an die Aufführung wird noch der Film „Von Menschen gemacht“ aus dem Jahr 2010 gezeigt, der die Theaterinszenierung „Bauen nach Katastrophen“ von 2009 dokumentiert. Im Gegensatz zu „Katastrophenkompositionen“ geht es in der gleichnamigen früheren Fassung des Workshops und dem daraus hervorgegangenen Bühnenstück von Kindern für Erwachsene nicht um die Vertonung, sondern um die Visualisierung von Katastrophen. Entsprechend sieht man im Film wie Kinder Katastrophen mit Lebensmitteln nachstellen und diese Modelle dann selbst mit Kameras filmen. Gleichzeitig werden sie dabei von einer weiteren Kamera aufgenommen. Auf der Leinwand sind dann nebeneinander die Katastrophenszenarien der Kinder sowie das „making of“ dieser Bilder zu sehen. Die Kombination von Aufführung und Film im Rahmen der Tanznacht erweist sich im nachhinein als hilfreich, um auch den „Katastrophenkompositionen“ Gewicht zu geben. Denn der dominante Sehsinn veranschaulicht besser, was letztlich schon über das Hören geschieht.

Was hast du da drin gerade gesehen?

Es war die Vertonung von Katastrophen und später kamen noch die Bilder im Film dazu. Also eine Art Hörspiel mit Kino.

Was hat für dich besser funktioniert? Klang oder Bild?

Die Bilder der mit Essen produzierten Katastrophen, weil man mehr erkennt und sich mehr Gedanken macht. Gedanken über den spielerischen Aspekt der Umsetzung, aber auch über unsere Verantwortung gegenüber der nächsten Generation. Das war bei den Audio-Katastrophen nicht so stark der Fall.

Welche Rolle hatten die Kinder in der Vorstellung?

Sie waren die Instrumente, denn ohne sie hätten die Katastrophen nicht stattgefunden. Sie wurden gewissermaßen instrumentalisiert.

Wer war Autor oder Regisseur der Katastrophen?

Sie waren es selbst, aber es gab außerhalb des Raumes ja noch jemanden, der das mit ihnen angestellt hat oder sie auf die Idee gebracht hat.



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