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Joachim Gerstmeier und Nikolaus Müller-Schöll (Hg.): Politik der Vorstellung. Theater und Theorie. Berlin: Theater der Zeit (36), S. 160–176.

IN ONE SENSE NEVER DIFFERENT AND IN ANOTHER SENSE NEVER THE SAME

von Tim Etchells

In einer Hinsicht niemals anders und in anderer Hinsicht niemals gleich

Einige Gedanken zu Eva Meyer-Kellers komischer Tragödie Death is Certain

1.

Sie betreten einen Raum von mittlerer Größe. In der Mitte stehen zwei große, rechteckige Tische, jeder mit einem weißen Papiertischtuch bedeckt. Ein schmuckloser Raum, keine Dekorationen, keine Bilder an der Wand. Grelles Neonlicht. Oder Tageslicht, das durch die Fenster fällt. Oder beides. Die Tische sind ungefähr 1,5 Meter voneinander entfernt.

Auf dem Tisch, der näher bei der Tür steht: nichts.

Auf dem anderen: ein Aschenbecher, ein Spielzeugauto, eine Dose Backpulver, ein Ziegelstein, eine Bohrmaschine, ein Bügeleisen, ein Feuerwerkskörper, drei Dartpfeile, ein Deospray, ein Plastikeimer, ein Sack Erde, eine Flasche Essig, ein paar Einwegfeuerzeuge, eine Dose Zippo Feuerzeugbenzin, ein Fön, eine Rolle Klarsichtfolie, ein Einmachglas, auf dem GIFT steht, ein kleiner Sack Zement, eine Rührschüssel aus Plastik, ein paar Haarnadeln, ein Hammer, drei Luftballons (nicht aufgeblasen), eine Heliumflasche, eine Käsereibe, eine Rolle Tesafilm, zwei Kirschlutscher, ein Klumpen Knetmasse, zwei Löffel, ein Messer, ein Glas Kirschmarmelade, eine Küchenrolle, ein Paar Latexhandschuhe, eine Abfalltüte aus Plastik, ein paar Näh- oder Stecknadeln, eine Nagel-/Sandblattnagelfeile, ein großes Blatt Papier, eine kleine Flasche Rum, eine Rasierklinge, eine Handvoll Reißzwecken, ein Behälter mit Salz, eine Spritze samt Nadel, fünf kleine Steine, eine Schachtel Streichhölzer, ein Strohhalm, ein Elektrokabel mit Stecker am einen Ende und freigelegten Drähten am anderen, drei Eßteller, ein Tee-Ei, eine kleine Karaffe, eine Rolle Zahnseide, Zahnstocher, Zuckerwürfel, eine Dose goldene Sprühfarbe, eine Packung Zigaretten, ein Notizbuch und fünfunddreißig Kirschen.

Die Gegenstände auf diesem zweiten Tisch sind gitterförmig ausgelegt. Diese Anordnung auf der makellos weißen Tischdecke verleiht dem Sammelsurium aus häuslichen und nicht so häuslichen Dingen eine instabile Ordnung.

Bei den Tischen steht eine junge Frau. Sie trägt schwarze Kleidung (Rock, Pullover, Stiefel) und darüber eine weiße Schürze. Sie lächelt. Wenn alle den Raum betreten haben, wenn sie sich, vom Eingang her, entlang der Wände verteilt haben und auf sie und die Tische blicken, dann beginnt sie.

2.

In den nächsten 40 Minuten wird sie die Ausrüstung auf dem vollen Tisch – jeweils einen oder zwei oder sogar noch mehr Gegenstände – dazu nutzen, jede der Kirschen auf andere Weise zu töten bzw. eine andere Todesart an ihr zu demonstrieren. Die in Reihen ausgelegten, „wartenden“ Kirschen werden schon bald ihre Opfer sein – ihre Versuchskaninchen in einer Folge brutaler und komischer „Experimente“, ihre Voodoo-Puppen, ihre Crashtest-Dummies.

Und das ist der erste Tod: Sie nimmt eine Kirsche, den Tesafilm und die Zahnseide vom vollen Tisch und geht damit direkt zu dem leeren Tisch. Sie reißt ein Stück Zahnseide ab, klebt das eine Ende an die Kirsche, dann das andere an den Tischrand. So befestigt, läßt sie die Kirsche fallen. Sie schwingt, baumelt, hängt. Merkwürdige Frucht.

Dylan Thomas schrieb in A Refusal to Mourn the Death, by Fire, of a Child in London, daß „nach dem ersten Tod kein anderer mehr kommt“, aber das ist natürlich nicht wahr. Es gibt immer noch jede Menge weiterer Tode, und in Eva Meyer-Kellers außerordentlich einfacher, erschreckender und komischer Performance Death is Certain stehen noch exakt vierunddreißig davon aus.

3.

Nach dem Erhängen kommt das Ertränken und nach dem Ertränken kommt die Gefangenschaft in einem „Käfig“, die zum Tod durch Verhungern oder Erfrieren führt, und nach der Gefangenschaft in einem „Käfig“, die zum Tod durch Verhungern oder Erfrieren führt, kommt das Auseinanderreißen mithilfe von Haken, und nach dem Auseinanderreißen mithilfe von Haken kommt das Pfählen (oder eine Kreuzigung), und nach dem Pfählen (oder der Kreuzigung) kommt das Vergasen, und nach dem Vergasen kommt brutales Schinden, und nach dem brutalen Schinden kommt das Zermalmen, und nach dem Zermalmen kommt das Verbrennen, und nach dem Verbrennen kommt die Giftspritze, und nach der Giftspritze kommt wieder Zermalmen und nach dem erneuten Zermalmen kommt barbarisches Wegfeilen der Haut an der gesamten Oberfläche, und nach dem barbarischen Wegfeilen der Haut an der gesamten Oberfläche kommt ein Voodoo-Mord, und nach dem Voodoo-Mord kommt absolut unverkennbares Pfählen und nach dem absolut unverkennbaren Pfählen kommt das Häuten, bei dem der gehäutete Körper anschließend mit Salz bedeckt wird, und nach dem Häuten, bei dem der gehäutete Körper anschließend mit Salz bedeckt wird, kommt die Zerstückelung, und nach der Zerstückelung kommt die Hinrichtung durch Stromschlag, und nach der Hinrichtung durch Stromschlag kommt das Begraben bei lebendigem Leib, und nach dem Begraben bei lebendigem Leib kommt eine Kombination aus Verbrennen und Zermalmen, und nach der Kombination aus Verbrennen und Zermalmen  kommt das Raspeln oder Zerschreddern, und nach dem Raspeln oder Zerschreddern kommt der Sturz in einem Wagen von der Spitze einer Klippe und nach dem Sturz in einem Wagen von der Spitze einer Klippe kommt das Einbetonieren, und nach dem Einbetonieren kommt das Auflösen in Säure, und nach dem Auflösen in Säure kommt eine Explosion, die zur Zerstückelung führt, und nach der Explosion, die zur Zerstückelung führt, kommt das Erwürgen, und nach dem Erwürgen kommt Dunkelhaft, die ganz, ganz langsam zum Hungertod führt, und nach der Dunkelhaft, die ganz, ganz langsam zum Hungertod führt, kommt zu Brei schlagen, und nach dem zu Brei schlagen kommt der Sturz aus einem Ballon, und nach dem Sturz aus einem Ballon kommt der Mord mit einem Bohrer, und nach dem Mord mit einem Bohrer kommt das Ertränken auf hoher See, und nach dem Ertränken auf hoher See kommt das Verbrennen bei lebendigem Leib, und nach dem Verbrennen bei lebendigem Leib kommt bei lebendigem Leib gegessen werden, und nach dem bei lebendigem Leib gegessen werden kommt mit Gold besprüht werden, das wahrscheinlich zu irgendeiner Form von gräßlichem Erstickungstod führt, und nach dem mit Gold besprüht werden, das wahrscheinlich zu irgendeiner Form von gräßlichem Erstickungstod führt, kommt der Tod durch Eintauchen in Marmelade.

4.

Wie sagt doch Robert Bresson? Je ausdrucksloser ein Bild ist, desto mehr schwingt es mit, wenn man es neben ein anderes stellt.

5.

Die Hinrichtungen werden an Kirschen ausgeführt, an einer nach der anderen. Wenn die letzte Kirsche umgebracht worden ist, ist die Performance vorbei. Die Exekution dieser Performance (das kleine Wortspiel ist durchaus beabsichtigt) ist ebenso einfach, ebenso frei von Beiwerk oder Ausschmückungen wie ihre Struktur. Während Meyer-Keller von einem Mord zum nächsten übergeht, bewegt sie sich auf eine Weise zwischen den Tischen ihrer Todesküche, die als neutral oder funktional bezeichnet werden könnte, auf jeden Fall aber darauf angelegt ist, ihre Aufgabe in keiner Weise zu kommentieren. Sie macht kein Drama aus ihren Entscheidungen – ihre Aktionen werden nicht zur Komödie oder Tragödie, ihre Reaktionen nicht zum Melodram. Ihre etwas brüske Art, die ein ganz klein wenig an das Verhalten einer Laborassistentin oder Küchenhilfe erinnert, ließe sich vielleicht am ehesten als das Benehmen eines Menschen beschreiben, der einfach nur seinen Job macht. Sie tut, was zu tun ist, nicht mehr und nicht weniger. Nachdem sie am Anfang zur Kenntnis genommen hat, wer sie beob­achtet, kümmert sie sich nicht mehr weiter um die in zufällig entstandenen Gruppen zusammenstehenden Zuschauer; sie sucht weder Blickkontakt, noch hält sie nach Reaktionen auf ihr Tun Ausschau. Sie ist sich selbst genug, ist in jeder Hinsicht viel zu beschäftigt, um Zeit für Nettigkeiten übrig zu haben, und ist auf jeden Fall völlig davon überzeugt, daß das, was sie tut – nämlich an ihren fünfunddreißig Kirschen den Tod zu demonstrieren –, sowohl für sich selbst spricht als auch in sich klar genug ist, um keiner weiteren Vermittlung oder Erklärung von ihrer Seite zu bedürfen.

Ihr gelegentlicher Blick auf die Listen und Anweisungen auf den Blättern, die auf dem „Ausrüstungstisch“ liegen, erinnert uns daran (soweit dies überhaupt notwendig ist), daß das, was wir hier mitverfolgen, die Sichtbarmachung eines Systems ist, das Befolgen eines Rezepts, die unbarmherzige Exekution (Wortspiel wiederum beabsichtigt) einer Aufgabe und definitiv nicht die Ausgeburt eines improvisierenden, frei assoziierenden oder zwanghaft mit etwas beschäftigten Gehirns. Hier ist Arbeit zu verrichten, und Meyer-Keller ist offensichtlich diejenige, die sie verrichten muß.

6.

Im Kern ist Death is Certain ein absurdes, simples Puppenspiel, eine plakative Darstellung von „Menschen durch Kirschen“, bei der Meyer-Keller die beiden Tische und das, was darauf liegt, in eine Art Behelfspuppentheater des Todes verwandelt. Wenngleich man meinen könnte, daß die Verwendung von Kirschenkörpern anstelle menschlicher Körper etwas sei, das am besten ins Kinderfernsehen oder in schräge Zeichentrickfilme paßt, besteht in Wirklichkeit doch ein tiefer Bezug zu den Ursprüngen des Theaters im historisch-kulturellen Wandel vom Menschen- zum Tieropfer und schließlich zur Opferung unbelebter Dinge in der religiösen Praxis.

Der in Theaterstücken und bei Kinderspielen ablaufende zentrale Prozeß, die dort aufgestellte Behauptung – jene ebenso absurde wie nachhaltig faszinierende Idee nämlich, daß ein Ding für ein anderes stehen kann – wird hier in einer ganz buchstäblichen, comic-haft simplen Form unabläßig wiederholt. Der Wein und die Hostie für das Blut und das Fleisch. Eine Kirsche für einen Menschen. Die Kirschenhaut für die menschliche Haut, ihr Saft für das Blut, ihr Kern für die Knochen. Zahnseide für den Strang des Henkers. Zuckerwürfel für Steinblöcke. Ein Spielzeugauto für ein richtiges und der Rand eines zwei Meter langen Tisches für eine Klippe. Ein Eimer Wasser für einen Ozean, gefaltetes Papier für ein Boot und der heiße Luftstrom eines 40-Watt-Föns anstelle eines Sturms.

7.

Elaine Scarry schreibt in The Body in Pain, daß bei der Folter die Verwendung alltäglicher Gegenstände, Orte und Materialien (einschließlich der Sprache) letzten Endes dazu beitrage, die Beziehung eines Opfers zur Realität aus dem Lot zu bringen. In dem Prozeß, den sie beschreibt, werden zweckentfremdete Elemente des täglichen Lebens – Türen, Tischkanten, Streichhölzer, menschliche Berührungen und Stimmen – bald von einer tiefen und unerschütterlichen Böswilligkeit überschrieben. In Death is Certain inszeniert Meyer-Keller ein Echo dieses Prozesses, das zugleich komisch und verstörend wirkt, wobei die banalen Objekte, die sie auf ihrem Requisitentisch versammelt hat, mit der Geschichte ihres brutalen und spielerischen Mißbrauchs verwachsen, wenn sie in unerbittlicher Folge als Instrumente für brutale, wenn auch durch und durch imaginäre Morde herangezogen werden.

Die Tatsache, daß Meyer-Keller ausgerechnet die Kirsche zur Opfer-Puppe auserkoren hat, ist auf jeden Fall bedeutsam. Eine Reihe stofflicher Aspekte (die Kirsche ist klein, sie ist rot, sie hat eine Haut, Fleisch, einen Kern und Saft) lassen sie als Miniatur-Menschenersatz geeignet erscheinen, zumindest, wenn man die ungewöhnlichen Anforderungen bedenkt, die in diesem Kontext gestellt werden. Zu diesen Aspekten kommt jedoch noch hinzu, daß unsere Kultur mit der Kirsche eine Vielzahl von Assoziationen verbindet, wobei sich diese natürlich nicht auf den Tod beziehen, sondern auf Sex und auf Perfektion: „losing one’s cherry“ – seine Kirsche verlieren – steht für den Verlust der Jungfräulichkeit; „with a cherry on top“ – mit einer Kirsche garniert – bedeutet so viel wie das „Sahnehäubchen“, signalisiert also absolute Vollkommenheit oder höchsten Luxus. In Death is Certain wird die Kirsche dagegen zu einer Art unglückseligem, ganz auf die Opferrolle reduziertem Objekt; die sexualisierte, mit dem Höhepunkt der Lust verknüpfte Frucht wird alsbald zum Opferlamm.

8.

Während wir das Geschehen von unseren Beobachtungsposten entlang der Wände verfolgen, wird uns bald bewußt, daß keiner der Tode, die Meyer-Keller inszeniert, natürlichen Ursprungs ist. In der Welt von Death is Certain gibt es keine Altersschwäche, keine Krankheit und keine natürlichen Todesursachen, sondern nur eine ganze Palette von Tötungen, Morden und Exekutionen. Sogar bei denjenigen Todesfällen, bei denen man davon ausgehen könnte, daß ein fiktionaler Verbrecher fehlt – bei einem Unfall mit dem Ballon oder dem Auto etwa –, selbst da ist Meyer-Keller unweigerlich als Verursacherin präsent, als Hand Gottes, die Dartpfeile wirft, um den Ballon zum Platzen zu bringen, als Hand des Schicksals (wenn nicht gar als übermächtiger Mafiaboß), die den Wagen und seinen todgeweihten Kirschenpassagier vom Tischrand stößt.

9.

Die Tode der Kirschen beschleunigen sich, verlangsamen sich, werden seltsam, werden einfach. Innerhalb dessen, was wir als die zerstörten Parameter oder als die strikt beschränkte Ökonomie ihres Spiels bezeichnen könnten, manipuliert Meyer-Keller mit Geschick die Variablen, insbesondere in bezug auf das Raum- und Zeiterleben der Zuschauer.

Die Dramaturgie des Stückes ist subtil und beruht zum größten Teil auf dem spielerischen Bestreben, „die Dinge in Bewegung zu halten“. Bei den inszenierten Toden bleiben unterschiedliche Grade von Ernst und Verspieltheit, Simplizität und Komplexität in ständigem Fluß. Wir hängen gleichsam am Tropf und werden von fortwährenden, wenngleich zumeist minimalen Überraschungen ernährt – gebrochenen Rhythmen aus lauten und leisen Toden, langsamen und schnellen Toden, kleinen und großen Toden, Toden, die den Performance-Raum auf unterschiedliche Weise nutzen. Die Ökonomie der Arbeit flackert und fluktuiert so sehr, daß wir nie genau sagen können, auf welcher der genannten Achsen sie ruht. Der britische Performancekünstler Gary Stevens beschrieb mir einmal eine seiner Performances als „eine Komödie, die sich doch nie ganz als Komödie erweist“, und Meyer-Kellers Performance scheint ebenfalls in diese Rubrik zu gehören und sie noch zu erweitern. Die albernen oder komischen Tode werden in einzelnen Sequenzen, Strudeln oder wechselnden Mustern gegen jene ausgespielt, die „schwieriger“, brutaler oder ekelhafter sind, ohne daß es zu einer wachsenden Eskalation käme oder die Sache „zunehmend ernst“ würde. Sogar in der Dramaturgie beharrt die Performance auf ihrer eigenen Leere, indem sie – trotz des ständigen Wechsels – einen Aufbau präsentiert, der undifferenziert erscheint und mit Sicherheit keine offensichtliche Steigerung hat, der keine Reise zu einer Szene ist, die als denouement oder als finale emotionale Katharsis geplant wäre.

Selbst in der minimalistischen und hoch verdichteten Arena der Tischoberfläche, die sie als ihre Bühne definiert hat, bedient und nützt Meyer-Keller den für Live-Performances charakteristischen Hunger nach Vorrichtungen, die die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf unterschiedliche Dinge gleichzeitig lenken. So wird bei Death is Certain die inszenierte Tötung einer Kirsche zwar zumeist vollendet, bevor die nächste beginnt, doch kommt es im Verlauf des Stücks auch vor, daß die Zeitstruktur verändert und verzerrt wird und ein Tod sich hinzieht, um mit dem nächsten zusammenzufallen oder ihn zu überlappen. Kirsche 24 löst sich noch zischend in ihrem Glas Salzsäure auf, während Kirsche 25 bereits mit Methode an den Knallkörper gebunden wird, der ihr Dasein beenden wird. Ähnlich wird Kirsche 20 unbeaufsichtigt weiter verbrannt und zermalmt (in ein Tuch eingeschlagen, das unter ein heißes Bügeleisen gelegt wurde), während Meyer-Keller schon geschickt die Kirschen 21, 22 und 23 ins Jenseits befördert. Diese Art Kunstgriff – der überlegte Bruch mit einer Erwartung, die sich in den vorangegangenen fünf, zehn oder fünfundzwanzig Minuten der Performance aufgebaut hat – ist ein typisches Beispiel dafür, in welcher Weise Performances wie Death is Certain ihre Dramaturgie entwickeln, indem sie logische, konsequent ausgewählte Bausteine schön ordentlich, aber spielerisch aufeinander türmen. Dergleichen wäre unmöglich ohne die Einflüsse, die der Strukturalismus, die Spiel- und die Systemtheorie auf die Populärkultur ausgeübt haben, und unterscheidet sich tiefgreifend von der traumartigen, assoziativen oder formal freien Nicht-Logik, die die Modernisten des Theaters verfechten. Wie beinahe alles in Death is Certain ist auch Meyer-Kellers Kunstgriff, Kirsche 20 verbrennen zu lassen, während sie sich mit ihren drei nächsten Opfern beschäftigt, ein kleiner Trick – ein minimalistisches, genau durchdachtes Spiel mit unserer Aufmerksamkeit –, aber im streng begrenzten Rahmen der Performance reicht er als Mittel vollkommen aus und erweist sich als hochwirksam. Tatsächlich nehmen wir erst dann richtig wahr, was sie getan hat, wenn sie zum Bügeleisen und der darunterliegenden, mittlerweile gar gekochten Kirsche zurückkehrt. Wir erleben diesen Augenblick mit dem merkwürdigen Vergnügen, das man verspürt, wenn man dazu gebracht wurde, etwas zu vergessen, und sich dann doch wieder daran erinnert – ein Stück theatralischer Täuschung in einem Kontext, von dem man zunächst geglaubt haben mag, daß er keine Täuschung mehr zuließe.

An anderer Stelle wiederum wird unsere Beziehung zum Performance-Raum und die Art, wie wir ihn begreifen, neu definiert. Auf einer Ebene durchläuft Death is Certain einen kontinuierlichen Prozeß sozio-spatialer Verhandlung, der eine Grundlinie bildet, zu der Meyer-Keller ein metronomisches Hin und Her zwischen den Tischen, ihren Requisiten und den Ausrü­stungsgegenständen in ihren Händen inszeniert. Das bunt zusammengewürfelte Publikum, das sich in immer neuen Rollen findet – mal lynchwütiger Mob, mal eine Ansammlung neugieriger Gaffer bei einem Autounfall, mal skeptische, schwatzende, neugierige oder lediglich pflichtbewußte Hauswirtschafts-, Chemie- oder Biologiestudenten –, verfolgt indessen die Vorgänge aus einer Art einvernehmlich, aber gänzlich stillschweigend beschlossenen „respektvollen Distanz“ und wechselt dabei gelegentlich die Position oder wetteifert gar um die besten Plätze, um irgendein Detail des morbiden Geschehens noch genauer sehen zu können.

Jeder Kirschentod (wie überhaupt jede Handlung auf jeder Bühne) dient dazu, den Raum, in dem er stattfindet, neu zu definieren. Oft sind wir aufgefordert, uns ausschließlich auf die Mikro-Handlung am Tisch zu konzentrieren, allerdings in verschiedener Weise, wobei die Konkretheit der szenischen Anordnung manchmal akzeptiert, oft aber auch verwischt oder verzerrt wird. Der Tod von Kirsche Nummer 9 (mit Feuerzeugbenzin verbrannt) und der von Kirsche 24 (in Salzsäure aufgelöst) werden beinahe wie in Echtzeit vorgeführte wissenschaftliche Experimente präsentiert (die ganz unverhohlen einfach nur Tischexperimente sind), während viele andere Tode die Tischoberfläche zum Theater werden lassen und die Möglichkeit nutzen, diese simple Oberfläche zu verwandeln, indem sie andere Zeiten, Geschichten, Räume und Orte heraufbeschwören. Kirsche Nummer 27 wird langsam Stein für Stein in eine Miniaturgefängniszelle eingemauert, die aus Zuckerwürfeln geschaffen wird und keine Türen, Fenster oder andere Belüftungsmöglichkeiten aufweist.

Dann wieder wird unsere Aufmerksamkeit von den Tischen weg- und zu anderen Bereichen im Raum hingelenkt oder sogar aus dem Raum heraus: zur Decke hinauf bei Kirsche Nummer 29, aus dem Fenster bei Kirsche Nummer 25, unter den Tisch bei Kirsche Nummer 19, zur Tür des Raums bei Kirsche Nummer 12, die ihr irdisches Dasein beschließt, nachdem sie wiederholt gewaltsam zwischen Tür und Türrahmen eingeklemmt wurde – gefangen, zerschlagen, zerschmettert.

Und schließlich gibt es auch Tode, die unsere Raumwahrnehmung verschieben, indem sie unsere Aufmerksamkeit auf Meyer-Keller selbst lenken, wenn unser Blick auf der Performerin/Experimentierenden haften bleibt, die im Maßstab merkwürdig wenig zu den Geschichten paßt, in denen sie doch eine so entscheidende Rolle spielt. Wir schauen auf ihre Hände und Finger, wenn sie mit Hilfe der Nagelfeile und später der Rasierklinge die Haut von Kirsche 13 und 16 abzieht. Wir beobachten, wie ihr Mund sich öffnet, ihre Kiefer sich bewegen und ihr Kehlkopf zuckt, während sie Kirsche 33 aufißt, und werden uns dabei vielleicht zum ersten Mal der Tatsache bewußt, daß die Person, der wir schon die ganze Zeit zugesehen haben, ein „Innenleben“ hat.

10.

Death is Certain inszeniert die maschinelle Langeweile und zugleich kreative Fruchtbarkeit des Todes. Genau wie im wirklichen Leben ist der Tod auch hier die ultimative und unausweichliche, grausame Ein-Zeilen-Nachricht, der alte, alte, sehr alte Gag, den man einfach noch einmal erzählen muß und dann noch einmal und noch einmal und noch einmal – immer das gleiche und dennoch einfallsreich, in einer Hinsicht eigentlich niemals anders und in anderer Hinsicht nie, niemals auch nur im entferntesten gleich.

Ähnlich wie bei Titus Andronicus oder Shockheaded Peter von Phelim McDermott und Julian Crouch oder bei zahllosen Serienkiller-Filmen von Henry – Portrait of a Serial Killer bis Seven empfindet man auch bei Meyer-Kellers Spiel ein abgründiges Vergnügen, das eng mit seiner unablässigen Tödlichkeit verbunden ist. In gewisser Weise besteht der Genuß, den es uns verschafft, einfach darin, daß wir selbst überleben – haben doch die Tode, die sie ersinnt, zumindest für den Moment nichts anderes gemeinsam, als daß es nicht die unsrigen sind.

Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, hat das Vergnügen, ja, die Lust, die Death is Certain dem Zuschauer bereitet, viel mit der Detailgenauigkeit und dem Maßstab der inszenierten Todesfälle zu tun. Der Tod wird hier miniaturisiert, gezähmt, „sicher gemacht“ – in einen Taschenspielertrick verwandelt. Es überrascht nicht, daß es in Meyer-Kellers nächster Performance-Arbeit – Good Hands (2005) – explizit darum geht, Zauberkunststücke und Haushaltstricks aus nächster Nähe vorzuführen.

Abgesehen von dem unmittelbaren Vergnügen, das der „Tod im Miniaturformat“ verschafft, lädt Death is Certain die Zuschauer ein, die unterschiedlichen Grade von theatralem Einfallsreichtum, Witz oder gar theatraler Grausamkeit zu genießen, die die Inszenierung jedes einzelnen Todesfalls auszeichnen. Brutal einfache und schnelle Tode – das Erhängen von Kirsche Nummer 1 oder das An-die-Wand-Nageln von Kirsche Nummer 5 – wechseln sich ab mit Morden, die mit absurd komplexen Mitteln ausgeführt oder auf sadistische Weise in die Länge gezogen werden. Die arme Kirsche Nummer 7 wartet lange Zeit auf dem Tisch, während Meyer-Keller mit Hilfe eines Plastikbechers und einer Anzahl Reißnägel in aller Ruhe die kunstvolle Gerätschaft für ihre bevorstehende Abschlachtung zusammenbaut – eine behelfsmäßige Häutungsmaschine. Später wird der unglückseligen Kirsche Nummer 29 sogar ein zeitweiliges Entkommen vom Schlachtfeld des Tisches gestattet, nachdem sie an einen von Meyer-Keller mit Helium gefüllten Ballon gebunden wurde. Aber wenn der Ballon auch rasch aufsteigt, bleibt er doch alsbald unter der Zimmerdecke hängen, wo er zum idealen Angriffsziel für die Dartpfeile wird, die Meyer-Keller wirft, um ihn zum Absturz zu bringen.

11.

Beim Betrachten dieses Spiels (das auch Performance genannt wird) erlernen wir seine Regeln und bekommen einen Eindruck von seinen Möglichkeiten. Jede Ergänzung der Liste von Todesarten definiert unsere Vorstellung dessen, was möglich ist, neu, und lädt uns ein, ja zwingt uns, neu zu überdenken, worum es bei dieser Auflistung eigentlich geht und wie diese Performance „funktioniert“. Es ist dies eine Taktik, die von anderen zeitgenössischen Performance-Künstlern etabliert wurde, nicht zuletzt von dem konzeptionellen französischen Choreographen Jérôme Bel, in dessen Meisterwerk The show must go on Meyer-Keller als Performerin einen zentralen Part einnimmt. Hier jedoch vollzieht sich die substantielle Erkundung einer minimalistischen Prämisse auf einer neuen Sub-Mikro-Ebene, auf der die Grenzen von Brutalität und Übermut, Komplexität und Simplizität aber nichtsdestotrotz fortwährend neu gezogen und neu verhandelt werden.

Dieser Wechsel der Register oder dramatischen Modi dient auch dazu, die Zuschauer sowohl bei Laune als auch in ständiger gespannter Erwartung zu halten. Tod und Tod und Tod und Tod; wenn der Scherz auch derselbe bleibt, fällt er doch jedesmal auf packende Weise anders aus. Die Todesfälle sind wenig greifbar, schwer festzumachen – eben deswegen, weil sich die Bezugsrahmen fortlaufend verschieben. Wir sehen moderne Tode und altertümliche, Tode, die wir aus der wirklichen Welt kennen und solche, die eher Fiktionen oder Märchen zu entstammen scheinen, Tode, über die wir nur in der Zeitung gelesen haben, Tode, die wir nur im Kino gesehen haben, Tode, die zu schrecklich sind, um sie sich vorzustellen, Tode, die irgendwie immer da sind, sobald wir den Fernseher anschalten.

Die Tode eskalieren, und die Mittel der Ausführung wechseln. Blutige, ja theatralische Tode, bei denen Kirschen verbrannt, zerquetscht, auseinandergerissen, durch Stromschlag getötet, durchbohrt oder pulverisiert werden und bei denen Saftlachen, Fleischfetzen und zerplatzte Haut zurückbleiben, wechseln sich ab mit einfacheren, eher gedanklich durchgespielten oder gar konzeptionellen Tötungen – „Einbetonieren“, tödliche Injektionen, Gefängnishaft, die zum „Verhungern“ führt –, Tötungen, die keine Spuren auf den betroffenen Kirschenkörpern hinterlassen. Einmal findet sogar ein Voodoo-Mord statt, bei dem ein Stück Plastilin von der Größe und Form einer Kirsche mit Nadeln gespickt wird, was zur imaginären Quälerei und letztlich Ermordung von Kirsche 14 führt – ein verrücktes, komisches Manöver, das auf effektvolle Weise die ganze Performance dupliziert oder in sich selbst abbildet (ein Körper aus Plastilin steht für eine Kirsche, die auf jeden Fall als „Ersatz“ für einen menschlichen Körper dient).

Zumeist fungieren die Kirschen abwechselnd als bloße Zeichen und Ideen oder aber als schrecklich, überdeutlich fleischliche Dinge – als Körper. Das „Wo“ der Tode wechselt unablässig zwischen dem physischen, unordentlichen, entschieden konkreten Raum des Tisches und dem eisigen, abstrakten Zeichen-Raum in den Köpfen der Zuschauer. Während der höchst simplen und zugleich absolut komplexen Abläufe der Darstellung sind wir uns zwar bewußt, daß all diese Tode immer definitiv nur in unseren Köpfen stattfinden, neigen aber gleichzeitig dazu, diese Tatsache beständig aus den Augen zu verlieren. Wir sind auf jeder Ebene Mitautoren des Werkes; ermutigt uns Meyer-Keller doch dazu, den leb- und bewußtseinslosen Kirschen in unserer Vorstellung Leben und Empfindungen zu verleihen, nur um dann gezwungen zu sein, ihnen dieses Geschenk in jedem einzelnen Augenblick der Hinrichtung unversehens wieder zu nehmen. Da ist Blut an unseren Händen – oder zumindest in unseren Köpfen. Den Gesetzen einer grausigen Rechenoperation folgend, finden die Tode immer zugleich hier und anderswo statt, sind immer unecht und drohen sich doch ständig in gewisser Weise in echte Tode zu verwandeln, sind immer ein Scherz und doch nie im mindesten lustig.

Und schließlich empfinden wir vielleicht auch eine Art pures Vergnügen an den Prozessen der Enthüllung und Erkenntnis, die sich vollziehen, während wir zuschauen – der Tod mag unausweichlich sein, aber wie er genau aussieht und mit welchen Mitteln er genau herbeigeführt wird, bleibt immer fraglich, immer ungewiß. Wir stehen im Raum und beobachten Eva Meyer-Keller in ihrer schwarzen Kleidung mit der weißen Schürze, wie sie Requisiten vom Tisch nimmt, sie benutzt oder arrangiert, und raten dabei, was sie nur jetzt wieder vorhaben könnte. Wir haben Spaß am Raten und daran, unsere Vermutung bestätigt zu finden; gleichzeitig haben wir, so widersprüchlich das sein mag, auch Spaß an dem spielerischen Grauen vor dem, was kommt: ein Gemisch aus Ehrfurcht, Entsetzen und Spaß („Oh nein. Das wird sie doch nicht machen?!“). Unser Vergnügen ist dabei – wie bei jeder Komödie – immer tief und aufs engste mit dem Timing und dem Prozeß des Verstehens verbunden, mit dem Rhythmus der verzögerten Erkenntnis und des plötzlichen Begreifens, der langsam dämmernden Gewißheiten und dem nachträglichen „Ich hätte es doch wissen müssen“. Manchmal raten wir sehr lange, bevor uns endlich aufgeht, daß aus diesen Zuckerwürfeln die Gefängniszelle erbaut wird, in der Kirsche Nummer 26 zunächst endlos schmachten und schließlich verhungern wird; ein andermal können wir überhaupt nicht raten und begreifen bis zum aller-, allerletzten Moment vor der Fertigstellung/Ausführung nicht, daß aus der durchsichtigen Plastiktasse, der Frischhaltefolie und der Zigarette eine Art Low-Tech-Gaskammer für Kirsche Nummer 6 entstehen wird. Während wir das Stück verfolgen, befinden wir uns in einem Zustand nahezu unablässiger genußvoller Erkenntnis – „Oh. Das hat sie also vor“ und „Oh … oh. Das ist ja furchtbar“. Und „Oh. Sehr clever …“ Oft lösen sich diese zugleich komischen und erschreckenden Erkenntnisse ganz schnell und unerwartet ab, immerzu zwischen diesen einander diametral entgegengesetzten Möglichkeiten hin- und herpendelnd.

12.

Ich lache. Ein Lachen unter Schock. Ein Jetzt-begreife-ich-Lachen. Ein Oh-Gott-wie-furchtbar-Lachen. Ein Gottverdammte-Scheiße-es-gibt-wirklich-Menschen-die-so-sterben-müssen-Lachen. Ein Lustig-was-sie mit-diesem-Requisit-macht-Lachen. Ein Damit-hätte-ich-nie-gerechnet-Lachen.

13.

Vielleicht bemerken Sie allmählich – nach dem Bauch-Aufschlitzen (oder Zweiteilen?) von Kirsche Nummer 17 oder dem Erdrosseln von Kirsche Nummer 26 oder auch zu irgendeinem anderen Zeitpunkt –, daß an ihrer Schürze Kirschsaft klebt oder daß sie, wenn sie zwischendurch Pause macht, den Kirschsaft von den Händen abwischt.

Oder vielleicht bemerken Sie allmählich, wie schnell sie vom Tisch weggeht, wenn irgendein Teil ihrer Arbeit erledigt ist, oder daß sie nicht abwartet, um die Resultate ihrer Handlungen zu beobachten. Ganz so, als müsse man dem Resultat – so sicher, so unausweichlich, wie es dem Titel der Performance nach ist – gar keine Beachtung mehr schenken. Sie weiß Bescheid und braucht, wie es scheint, nichts mehr zu sehen und zu lernen. Sie legt Kirsche Nummer 18 auf einen Teller und steckt zwei freigelegte Elektrodrähte unter die purpurrote Hautmembran. Sie nimmt den Stecker am anderen Ende dieser Drähte, steckt ihn in eine Wandsteckdose und legt dann den Schalter um. Auf diese Weise direkt ans Stromnetz angeschlossen, beginnt Kirsche Nummer 18 zu blubbern, Funken zu sprühen und zu dampfen. Man sieht winzige Lichtblitze aus ihrem Inneren aufleuchten, und für einen kurzen Moment sieht sie wirklich wie ein merkwürdig erleuchtetes, noch schlagendes Herz aus. Und dann Stille, kein Laut mehr und ein schwacher, beißender Geruch. Aber Meyer-Keller legt keine Pause ein, um dieses Miniatur-Schauspiel auch nur einen Augenblick lang zu verfolgen – sie hat sich bereits Kirsche Nummer 19 zugewandt, die (lebend, sozusagen) begraben wird, in einem flachen, mit Erde aus einem Sack Kompost gefüllten Grab. Die Lehre, die sich aus dem Geschehen ziehen läßt – so es denn eine gibt –, geht uns offensichtlich viel mehr an als sie.

Sie zeigt wenig oder gar kein Gefühl bei dem, was sie tut, scheint keine besondere oder überhaupt keine Meinung dazu zu haben, ja, sich noch nicht einmal sonderlich für ihre Aufgabe zu interessieren, abgesehen von dem Bestreben, sie gut, effizient und in der richtigen Reihenfolge zu erledigen. Wenn das „Experimente“ sein sollen, dann vermutlich welche, die sie nicht zum ersten Mal durchführt – all dies mag eine Wiederholung sein, nur zu Bestätigungszwecken oder als mäßig unterhaltsamer Zeitvertreib gedacht und nicht, um irgendeine brennende Neugier zu befriedigen. Sogar wenn sie Kirsche Nummer 8 in ein Tuch einwickelt und dann eigenhändig zerdrückt, zeigt sie keine große Anteilnahme. Sie ist ein Rätsel. Vielleicht furchteinflößend. Vielleicht witzig. Aber mehr als alles andere – gleichgültig. Eine ruhige Arbeiterin. Eine Nummer. Eine junge Frau. Vielleicht ist ihre Art vergleichbar mit der äußerlichen Teilnahmslosigkeit, die Menschen an den Tag legen, die auf Krebsstationen arbeiten, in Leichenschauhäusern, Folterkammern oder Todeslagern. Aber das wäre zu hoch gegriffen –wahrscheinlich ist es viel eher so etwas wie die zynische Haltung von Typen, die Fahrgeschäfte auf dem Rummelplatz betreiben, oder die gelangweilte Manier von Mädchen, die in der Geisterbahn die Fahrchips einsammeln. Das Publikum schreit und schreit und kreischt, aber die Profis haben alles schon gesehen. Gewiß, Meyer-Kellers Präsenz hat etwas an sich, das doch ein wenig mehr ist als nur Gleichgültigkeit – es ist eine bewußte Performance-Inszenierung von Unbeteiligtsein, eine Fassade der Indifferenz, eine Art sadomasochistische Strategie, deren Zweck zunächst schwer auszuloten ist.

Aber letzten Endes wird, für mich zumindest, der Zweck ihrer Gleichgültigkeit klar, sehr klar. Vielleicht geschieht das in dem Moment, als sie die Rasierklinge absetzt, nachdem sie Kirsche 16 gehäutet hat, dann zum Requisitentisch geht und Salz holt, um es auf den empfindlichen, so-gänzlich-nackten „Körper“ zu streuen, der übriggeblieben ist. Oder vielleicht wird der Grund für ihre Teilnahmslosigkeit in dem Augenblick klar, als sie eine Pause einlegt, nachdem sie Kirsche Nummer 23 tief in einen Becher mit Zement gedrückt hat, der, wie wir uns vorstellen (lange nach dem Ende der Performance?), aushärten und so zu ihrem Grab werden wird. Oder vielleicht wird der Grund für ihre Teilnahmslosigkeit auch an irgendeinem anderen, nicht genau bezeichneten oder zu bezeichnenden Punkt klar – es spielt keine Rolle; es kommt nur darauf an, daß er am Ende klar wird. Sie zeigt ihrer Aufgabe gegenüber eine relative Indifferenz, legt so wenig in sie hinein oder projiziert so wenig darauf, damit wir Zuschauer in das Vakuum, das sie schafft, gesogen, hineingezogen, hineingezwungen oder – wenn Sie eine geziertere Wortwahl bevorzugen –  eingeladen werden. Ich denke einen Augenblick lang an das absolut statische, distanzierte, kalt-grausame Auge der Kamera von Michael Haneke, wenn sie in dem Film Funny Games (1997) das Sterben des Vaters auf dem Wohnzimmerboden verfolgt, oder an Martin Sheens stoische, ungerührte, ständig beobachtende Präsenz während der Bootsfahrt durch eine Welt der Barbarei in Apocalypse Now (1979), oder an die Performerin Edit Kaldor, die während ihres gesamten brillanten Solos Or Press Escape (2002) tippend mit dem Rücken zum Publikum vor einem Computerbildschirm sitzt. (Ratschlag für Schauspieler: Wenn es etwas gibt, das Sie vom Publikum haben wollen oder brauchen, dürfen Sie sich nie, nie, nie anmerken lassen oder andeuten, daß Sie es wollen oder brauchen.) Da sie anscheinend so wenig fühlt, ist der Weg für uns frei.

14.

Wenn ich Death is Certain sehe, gibt es für mich immer Augenblicke, in denen das Lachen endet und zeitweilig von Trauer oder sogar Tränen abgelöst wird.

In diesen unerwarteten Augenblicken scheint sich die Absurdität, die in der Darstellung von Menschen durch Kirschen liegt, die Widersinnigkeit all der hausgemachten Puppentheater-Tode in einem Kurzschluß aufzulösen, in einem Sprung in die reale Welt – mit Hilfe des alten Zauberwerks von Nachahmung und Substitution –, in die Welt außerhalb der vier weißen Wände des Performance-Raumes, dieses Raumes mit einer jungen Frau, einer Reihe von Zuschauern, zwei Tischen und einer Menge Requisiten.

Solche Momente der emotionalen Beteiligung lassen sich kaum präzise in der Struktur des Werks verorten, weil ihr Auftreten ebensosehr von einer persönlichen Assoziation, einer persönlichen Gedankenverbindung oder gar persönlichen Einbildung herrührt wie von dem, was sich im Lauf der Performance vor unseren Augen abspielt (oder uns erzählt wird). Im Kern fungiert diese Arbeit – wie viele andere zeitgenössische Performances – als eine Leerstelle oder ein offenes Feld, innerhalb dessen die Anwesenden ganz nach Belieben Assoziationen herstellen können. Die Todesliste ist eine Art Rorschachtest, in dem keines der individuellen Elemente höher zu bewerten ist als die anderen, jedes aber potentiell mehr auslösen oder her­aufbeschwören kann als seine Nachbarn. Das Prinzip, das hier am Werk ist – genau wie auch in den Arbeiten von Forced Entertainment, die um textuelle Kataloge herum angeordnet sind, also etwa in Quizoola! oder Speak Bitterness –, besagt: Wenn das Spektrum der Färbungen und spezifischen Inhalte der einzelnen katalogisierten Fälle (bei Meyer-Kellers sind es die Todesfälle) nur groß genug ist, wird es beinahe immer einige geben, die den einzelnen Zuschauer ganz persönlich treffen.

Und das tun sie.

Manchmal stellen sich die Momente, in denen das Lachen in Trauer umschlägt, am schnell­sten bei den besonders ekelhaften Toden ein, die stark auf Folter oder Zerstückelung verweisen oder diesen ähneln; bei Toden, bei denen mit der Ausweidung einer Kirschenpuppe der Mißbrauch oder die Vernichtung eines menschlichen Körpers drastisch im Kleinformat nachgestellt wird. Die freigelegten Drähte, die unter die Haut von Kirsche Nummer 18 gestoßen werden, erinnern so offensichtlich an freigelegte Drähte, die an Genitalien gehalten werden, daß es letztlich schwierig ist, diese bedrückende Gedankenverbindung nicht herzustellen – so sehr man auch über die realistischen Horrorschocker-Soundeffekte lachen mag, die die verschmorende Frucht/das Opfer von sich gibt.

Ein andermal wird der Umschwung durch kühlere, komplexere, konzeptionelle Tode herbeigeführt wie etwa durch die Hinrichtung von Kirsche Nummer 10, die mittels Todesspritze vergiftet wird. Zwar wissen wir sehr gut, daß das Gift, das Meyer-Keller langsam injiziert, der Kirsche nicht wirklich etwas anhaben kann (eine Kirsche hat kein Leben, das man ihr nehmen könnte), doch gleichzeitig mag uns durch den Kopf gehen, daß das Gift in einer Todesspritze – der lähmende Stoff Pancuroniumbromid, auch als Pavulon bekannt, und der Giftstoff Kaliumchlorid – ein Menschenherz in Minutenfrist zu schlagen aufhören läßt.

So oder so, fest steht, daß solche Augenblicke plötzlichen Umschwungs, in denen sich Übermut unversehens in Bestürzung verwandelt, mit Sicherheit kommen werden.

15.

Die Arbeit ist bald erledigt.

Kirsche 33 wird gegessen. Mit leisem Lächeln schiebt Meyer-Keller sie in den Mund, was auf kokette Weise verstohlen geschieht: ein Ereignis, so will es scheinen, das wir eigentlich gar nicht bemerken sollen; ein hedonistischer, fast heimlicher Akt; ein verbotener Genuß; ein alltäglicher, harmloser, nicht sonderlich wichtiger Vorgang.

Kirsche 34 wird mit Goldfarbe besprüht. Wir sind im Vorspann des James Bond-Filmes Goldfinger (1964), unter der Regie von Guy Hamilton; die Titelmelodie von Shirley Bassey steigt als unhörbare Erinnerung in uns auf. An die Stelle der Schauspielerin Honor Blackman, die nackt, nur mit Goldfarbe bemalt, im Dämmerlicht vor schwarzem Samt gefilmt wurde, tritt eine einzelne goldene Kirsche, die – in grelles Tages- und Neonlicht getaucht – auf einer weißen Papiertischdecke liegt.

Meyer-Keller stellt die Spraydose ab und geht zum Requisitentisch zurück, wo sie den letzten Gegenstand auswählt, den sie für die Performance braucht – ein Glas Kirschmarmelade.

Sie kehrt zum Schlachtfeld zurück. Dort bereitet sie zwischen den Leichen und Leichenteilen der anderen 34 Kirschen den Tod der allerletzten vor – Kirsche 35. Sie schraubt den Deckel des Marmeladenglases ab. Nimmt ihren letzten Crashtest-Dummy und drückt ihn tief in das Fruchtmus, weit hinunter, ein gutes Stück unter die süße, klebrige Oberfläche, bis die Kirsche vollkommen zugedeckt ist. Als sie fertig ist, leckt sie ihren Finger ab und schraubt den Deckel wieder zu. Mit einer scherzhaften kleinen Reverenz an das Schicksal, das Tausende von Kirschen am laufenden Band erleiden, ist nun auch die letzte Kirsche ermordet, hat zu ihresgleichen zurückgefunden, ist wieder zu organischem Material geworden, ist aus der Repräsentation, aus dem Außerordentlichen herausgelöst und in die alltägliche Kultur- und Konsummaschinerie, zu sich selbst zurückgekehrt.

Asche zu Asche.

Staub zu Staub.

Ganz zuletzt nimmt sie die mittlerweile schmutzige Schürze ab, faltet sie zusammen und legt sie auf den Tisch.

Die Performance ist zu Ende.

Aus dem Englischen von Nikolaus Müller-Schöll und Joachim Gerstmeier.



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