Von der Notwendigkeit Fremdes zu erfahren.
Auf/Brüche von Wissenschaft und Künsten im Dialog über Bildung.
Am Beispiel einer Performance mit Kindern von Eva Meyer-Keller und Sybille Müller
von Kristin Westphal
Neue Ansätze für eine Zusammenarbeit der Künste und Bildung werden derzeit vielfach in interdisziplinär angelegten Projekten erprobt, in denen professionelle Theater-, Tanz- und PerformancemacherInnen in Kooperation mit Schulen oder im außerschulischen Bereich mit Kindern und Jugendlichen gebracht werden, um auf diese Weise das ästhetische Lernfeld (wieder) neu auszuloten. Sie eröffnen Möglichkeiten einer Spielpraxis, die nicht allein davon ausgeht, dass Kinder und Jugendliche rein kognitiv in die Unterscheidung von Symbolen, Zeichen und kulturellen Traditionen eingeführt werden, sondern darüber hinausgehend zur Fähigkeit der Unterscheidung mittels eigener Erfahrung im Theaterspiel und mit Performances selbst gelangen. Von den Modellen im ästhetischen Feld erhofft man sich, dass sie auf Schule und Bildung insgesamt zurückwirkt (vgl. Kneip 2007, 7). Sie werfen die umstrittene und noch zu untersuchende Frage auf, wie sich diese Erfahrungen im Kontext institutioneller Strukturen zwischen Konvention und Neuaufbruch sowie der Tradition einer ästhetischen Bildung gegenüber den Intentionen einer Kunstvermittlung brechen (vgl. Goehler 2009).
Die nachfolgenden überlegungen zur Fremdheit basieren - vor dem Horizont anthropologisch-phänomenologischer Diskurse in der Philosophie und Pädagogik - auf einer Vorstellung von Kunst und Bildung, in der die Künste weder als Illustration oder Beiwerk von Wissen noch als Auslöser für das Reproduzieren tradierter Interpretationsmuster “dient”, sondern in der die Künste als Element von Fremdheit tradierte Interpretationsmuster und Normierungen geradezu stören und auf diese Weise individualisierte Bildungsprozesse erst ermöglichen. Durch die Hinwendung zu den Prozessen der Aufnahme und Aneignung von Gegenständen der Künste werden Bildungsprozesse initiiert, die die Beteiligten gleichermaßen dazu herausfordern, sich einzulassen auf Irritationen, Grenzerfahrungen und überraschungen, um sich und Welt anders zu sehen und somit kulturell verfestigte Wahrnehmungs-, Fühl- und Denkmuster zu verlassen.(1)
Die überlegungen kreisen zunächst um die grundlegende Frage nach der bildenden Wirkung der Künste und den darin verborgenen Fremdheitspotenzialen. Dabei gehen wir davon aus, dass der Leib für jegliches ästhetische und künstlerische Handeln eine zentrale Bedeutung zukommt, insofern er an den Erfindungs- und Sinnstiftungsprozessen der Künste - wie hier im weiteren auf das Theaterspiel fokussiert - stets beteiligt ist, indem er sie zugleich hervorbringt. An einem Beispiel aus der Performancekunst mit Kindern wird das Ergebnis eines solchen Prozesses vorgestellt, der uns eine konkrete Antwort gibt, wie eine Inszenierungspraxis von Künstlerinnen gemeinsam mit Kindern gelingen kann.
### Un-vereinbarkeiten von Kunst und Wissenschaft?
Der Ruf nach den Künsten wird derzeit angesichts einer allgemeinen Funktionalisierung und ökonomisierung des Bildungssystems wieder laut. Ihnen wird etwas Anderes zugeschrieben als den Wissenschaften und dem unterrichtlichen Wissenserwerb. Wie in der Klassik und Romantik sollen sie wieder das Mehr, das Unbestimmte, das Mögliche, das Fremde und das Gegenwärtige im Sinne einer Suche und Ankunft von etwas Neuem artikulieren. (2) Dies sind Zuschreibungen, die die ästhetischen Fächer in den Schulen und die Studienbereiche an den Hochschulen gelegentlich überfrachten mit Wünschen und Hoffnungen, dem System etwas entgegen zu setzen. Auch rührt die Nachfrage des ästhetischen an den Bedingungen der Möglichkeiten einer kulturellen Bildung, die auf einem hohen qualitativen Niveau nicht nur vereinzelnd sondern generell noch zu etablieren wäre (Westphal/Liebert 2009, 9).
Unvereinbar scheinen die Sprachen der Künste und der Wissenschaften wie auch der Bildung. Worin liegen die grundlegenden Unterschiede in der Frage nach dem Verhältnis zu Selbst und Welt? Paul Valéry macht uns 1926 schon auf den Hauptunterschied der Kunst zur Wissenschaft aufmerksam. Er beobachtet, dass in der Kunst ein weitgehend freier Umgang mit der auszudrückenden Sache zulässig sei. “Die auszudrückende Sache ist bis zum Schluß nahezu frei, denn das Ziel ist die Korrespondenz selber - und nicht so sehr die Nutzung der Korrespondenz.” (3) Er vergleicht die Tätigkeiten in der Kunst mit denen der Wissenschaft und kommt zu dem Schluss, dass sie stets ein und dasselbe Ziel anstreben würden, nur mit zweierlei Verfahren. Das Ziel beschreibt Valéry als ein Bewältigen, überwinden von etwas. Die Einstellung darauf geschehe durch Angleichung an das Milieu oder durch Veränderung des Milieus, aber die Trennung dieser beiden Wege sei künstlich. (4)
Für die Wissenschaften sind Begrifflichkeiten notwendiges Handwerkszeug. Sie verfügen von daher über die Macht, Bedeutungen zu generieren und festzuschreiben. In den Künsten hingegen sind konkrete und einzigartige Erfahrungen am Werke, die sich einer Eindeutigkeit und Objektivierbarkeit eher entziehen. Und für die Pädagogik gilt, dass diese häufig unter dem Druck steht, zu normierten und standardisierten Ergebnissen zu gelangen. Auf den Punkt gebracht heißt das meist, dass der Lehrer/die Institution vom Schüler erwartet, was er hinein gibt, auch wieder herauskommt. In der Regel lässt sie die Erfahrung von Fremdheit gar nicht erst zu; ihr kommt die Rolle eines Störfaktors zu, die besonders schulische Unterrichtsabläufe eher als gefährdet hinstellen. Die Künste hingegen zeichnen sich gerade darin aus, dass sie sich den Phänomenen in der Spannung zwischen ihren Ordnungen und Unordnungen aussetzen. Sie lassen sich von ihren Strukturen, Mustern und Gestalten leiten. Auch zeigen sie keinerlei Scheu gegenüber Abweichungen von Ordnungen, also dem Außerordentlichen und den damit verbundenen Risiken. Kunst ist in gewisser Hinsicht als eine Form von Wissenschaft zu sehen, insofern sie hypothetisch, selbstreflexiv, lebensweltlich situiert ist und am konkret Gegebenen thematisiert und deutet (vgl. Winzen 2007, 133f.). Der Unterschied besteht Winzen zu Folge darin, dass Künstler Wahrnehmungen wahrnehmbar machen, die Wissenschaften jedoch über Wahrnehmungen sprechen (vgl. Winzen 2007, 133f.). Wie können wir eine Bildung gestalten, die diese Differenz wach hält und nicht aufhebt? Wie könnte eine Bildung aussehen, die dazu beiträgt, ein produktives Verhältnis basierend auf der konstitutiven Unvereinbarkeit von theoretischem Begriff und künstlerischen Ausdruck von Bild, Ton, Schrift etc. für eine eigene Form von Kunst als Wissenschaft von Wahrnehmungsweisen, in der das Unbestimmte, Unwägbare und Fremde aufgehoben ist, zu generieren?
### Das Fremde in der Philosophie
Lässt man sich in den Wissenschaften auf die Frage nach dem Fremden ein, werden die Grundfesten der Wissenschaft selber angerührt. In der Moderne wird von der Vision einer allgemeinen Vernunft ausgegangen, in der das Eigene und Fremde kein Thema ist. Sie unterstellt, dass diese Vernunft uns allen gemein ist und setzt ein autonomes Subjekt voraus, welches nicht individuierten, sondern allgemeinen Interessen und überzeugungen folgt. Die Fremdheit wird in diesen Diskursen neutralisiert, indem der Andere als ebensolches autonome Subjekt anerkannt wird. In der Philosophie und den Geisteswissenschaften finden wir das Fremde lange bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht als Grundbegriff etabliert, außer in der Form der Entfremdung in der Hegelschen/Marxschen Tradition, bemerkt Bernhard Waldenfels, der sich grundlegend mit den Dimensionierungen von Fremdheit auseinandersetzt (vgl. Waldenfels 2004, 11; 1997, 16). Entfremdung heißt in dieser Tradition, dass das Fremde ein Durchgangsstadium bildet, das mit seiner Aneignung ein Ende findet. Das gilt auch für den an Hegel angelehnten Bildungsbegriff: Bildung im Modus der Aneignung des Fremden läuft über die bestimmte Negation des Durchgangs durch das Fremde im Sinne der Aneignung und zielt auf die Versöhnung des besonderen im Allgemeinen. Für unseren Zusammenhang ist dem gegenüber die Bestimmung alles Fremdartigen von Waldenfels interessant. Das Fremde wird in dieser Theorie immer in Bezug zu einer bestimmten Normalität gesetzt. Es zeigt sich als Beunruhigung, rührt an die Grenzen von bestimmten Ordnungen und überschreitet diese. (5) Waldenfels differenziert Abstufungen, die sich bewegen zwischen der Erfahrung, die Fremdes in bekannte Muster integriert bzw. die paradoxe Erfahrung der Unzugänglichkeit des Fremden - im Sinne Husserls - akzeptiert bis hin zu einer Erfahrung, die einen aufstört und dahingehend irritiert und nötigt, dass man Altes aufgibt.
Das Fremde ist ein Schlüsselbegriff einer Phänomenologie der Erfahrung. “Dialogisch gesprochen erscheint das Fremde als jenes, worauf wir antworten, wenn wir etwas sagen und tun.” (Waldenfels 1997, 77) Es meldet sich in Form von Aufforderung, Provokation, Stimulation und Anspruch (164). Fremdes steht in dieser Theorie immer im Kontrast zum Eigenen. Der Anfang ist nicht die Einheit, sondern die Differenzierung (Waldenfels 2006, 208). Eigenes und Fremdes stellen dabei keine stabilen Größen vor, die Voraussetzung einer Erfahrung wären, vielmehr gilt, “dass Eigenes und Fremdes aus einer Differenzierung hervorgehen” (156). Als Differenzierungsgeschehen ist die Erfahrung des Fremden durch eine Verschiebung gekennzeichnet, die mit einer uneinholbaren Nachträglichkeit verbunden ist. “Das Antworten geschieht hier und jetzt, doch es beginnt anderswo.” (215; Merleau-Ponty 1964, 320) Fremdes ist fernerhin - dem Wesen des Theaters ähnlich - durch Flüchtigkeit gekennzeichnet. Es ist nicht dingfest zu machen, da es außerhalb von Ordnungsmustern und Regelungen steht. “Die Aufforderung des Fremden hat keinen Sinn, und sie folgt keiner Regel, vielmehr provoziert sie Sinn, indem sie vorhandene Sinnbezüge stört und Regelsysteme sprengt.” (Waldenfels 1997, 52) Diese Nichtassimilierbarkeit kommt für Waldenfels besonders deutlich in der Kunst zum Tragen. (6)
Merleau-Pontys grundlegende Untersuchungen zu den Formen zwischenleiblicher Begegnungen greifen unter dem Aspekt des sich zeigenden Anderen auch die Schauspielkunst auf. Am Beispiel der Geste eines Schauspielers beobachtet er die Verflechtung vom eigenen und fremden Leib. “Was ich als den Leib des Anderen zu betrachten beginne, ist eine Möglichkeit von Bewegungen für mich.” (Merleau-Ponty 1994, 437) Ein Zuschauer im Theater ist in der Wahrnehmung beim Anderen und nie ganz bei sich. Eine Aufführung ermöglicht insofern für die Beteiligten die überschreitung des Eigenen bzw. dessen, was sie dafür halten mögen (vgl. Roselt 2008, 245). Lévinas hebt hervor, dass sich das Ich im Begehren besonders durch unsere kulturelle Tätigkeit, die leibliche, sprachliche und künstlerische Gebärde auf den Anderen richte, ihn aber zugleich durch die kulturell ermittelten Normierungen und Wissensbezüge unabwendbar verfehlen würde. Nach ihm ist der Andere als Fremder - radikaler als bei Merleau-Ponty - als Entzug gekennzeichnet: “Die Beziehung zum Anderen stellt mich in Frage, sie leert mich von mir selbst; sie leert mich unaufhörlich, indem sie mir so unaufhörlich neue Quellen entdeckt.” (7) Sowohl der strukturalen Ontologie von Merleau-Ponty wie der Fremdheitsphilosophie von Lévinas als auch der “Responsiven Rationalität” von Waldenfels liegt der Kerngedanke zu Grunde, dass jedes soziale Handeln und jede soziale Erfahrung nicht im einzelnen Menschen ein einpoliges Aktzentrum hat, von dem allein aus die Initiativen ausgehen und die Wirkungen zurücklaufen und kalkulierbar wären (vgl. Lippitz 2003, 181). Mit Blick auf unsere Frage nach der Bildsamkeit ist daran interessant, dass sie sich durch den Anderen vollzieht und auf diese Weise zu einem anderen Subjekt- und Lernverständnis führt. Die Erfahrung des Fremden führt uns über uns heraus in die Zwischenwelt der Kommunikation und Interaktion, von der aus auch Bildung neu und anders konfiguriert werden muss: nämlich der Struktur von Alterität und Fremdheit als grundlegend für Bildung und Pädagogik folgend. Pädagogik ist dann zu verstehen als ein offenes, dezentriertes und responsives Geschehen zwischen den Generationen zu verstehen (Lippitz 2008). Inwiefern dieser von Lippitz formulierte Zugang in der Pädagogik mit der Vorstellung eines schöpferischen Tuns in den Künsten mit Kindern korrespondiert, also auch mit der Frage eines Ausdrucks- und Sinngeschehens einhergeht, wird im weiteren genauer zu untersuchen sein.
### “Fremdmachen” im Theaterspiel
Entscheidend für die weitere Diskussion sind die von Waldenfels inspirierten Fragen: Wie wird das Fremde in den Künsten als Fremdes erfahren, wie können wir vom Fremden sprechen? Wie kann es sichtbar gemacht werden, wie wird es in den Künsten sichtbar (Waldenfels 2004, 11)? Die Verfremdung spielt in der Kunst- und Theatertradition eine bestimmte Rolle. Fremdheit hat hier zu tun mit einer speziellen Form der Aufführungspraxis. Unter Verfremdung ist bei Brecht (oft gleichbedeutend mit‚ Entfremdung) der Prozess des Fremdwerdens oder des Fremdmachens zu verstehen, indem gewohnte Darstellungs- und Bedeutungszusammenhänge aufgelöst, neue Wahrnehmungsweisen und Erkenntnismöglichkeiten eröffnet werden. "Eine verfremdende Abbildung ist eine solche, die den Gegenstand zwar erkennen, ihn aber zugleich fremd erscheinen lässt." (8) Das Bekannte soll nicht mehr als selbstverständlich erscheinen, damit es auf neue Weise erkannt und auch verändert, bzw. in seiner Veränderbarkeit begriffen werden kann. “Die von Brecht als zentrales Problem eines Theaters im wissenschaftlichen Zeitalter erkannte Frage, wie es nicht nur zugleich unterhaltend und lehrhaft sein, sondern auch‚ aus einer Stätte der Illusionen zu einer Stätte der Erfahrungen gemacht werden' könne, lässt seine Auffassung von Verfremdung weiterhin brauchbar erscheinen - allerdings nicht im Sinne einer schematisch wiederholbaren Methode, vielmehr als Infragestellung des Theaters selbst, seiner Voraussetzungen, Institutionen und Formen.” (9)
Wird das Befremden bei Brecht als Methode verwendet, eine Haltung zu einem Geschehen und einer Figur zu gewinnen und auf diese Weise zu neuen Erkenntnissen über eine ästhetische Distanz zu gelangen, ist der Performancekunst, wie sie sich im letzten Jahrhundert seit den 60er Jahren und bis heute zu vielfältigen Formen als Kritik gegenüber den klassischen Künsten herausgebildet hat, daran gelegen, sich auf “Widerfahrnisse”, Zufälliges, auf Ungeregeltes, Improvisiertes einzulassen. Handlungen werden in der Performancekunst situativ entwickelt und nicht mehr entlang eines Skripts; das Miteinanderspielen generiert erst den Sinn, statt ihn auszuführen. “Der Begriff der Performance bezeichnet nicht nur Prozesse der Verkörperung bzw. der Ausführung körperlicher Handlungen, sondern immer auch deren Wahrnehmung.” (Fischer-Lichte 2005, 232) So unterscheidet sich eine Performance vom bloßen Tun nicht etwa durch den Rahmen, in dem sie stattfindet, wie wir es vom Theater gegenüber außerästhetischen Kontexten her kennen, sondern durch bewusste Inszenierung und/oder Rezeption, die dieses Tun als Performance erst qualifizieren.
### Theater/Kunst mit Kindern
Heiner Müller hat in einem Gespräch einmal gesagt, die Aktualität der Künste liege im Morgen. In der Tradition der Erziehungswissenschaften gibt es eine entsprechende Aussage bei Schleiermacher, die die Gegenwart der Kinder in die Zukunft projiziert. Der Horizont der Künste wie auch der von Kindern wird hier auf ein noch unbestimmtes Künftiges hin, als ein geöffneter Möglichkeitsraum gedacht. Den Künsten wie auch den Kindern wird ihr Potenzial als das, was aus der Zukunft auf die Gegenwart noch zukommt und keineswegs schon in der Gegenwart ausgebildet ist, zugeschrieben. Aus der Perspektive von Erwachsenen teilen wir uns die Gegenwart mit der heranwachsenden Generation. Doch reichen wir nicht heran an die Welt des Kindes. Kinder sind uns vertraut, sofern wir uns erinnern lassen an die eigene Kindheit und sie sind uns zugleich fremd, sofern sie ihre eigenen Erlebniswelten haben, die sich uns entziehen (vgl. Lippitz 2003, 193).
Die Art und Weise, wie Kinder die von Erwachsenen bestimmten Ordnungen und Spielregeln deregulieren, spielerisch außer Kraft setzen, Neues erfinden oder endlos wiederholen, was ihnen im Spiel Lust bereitet, ist mit dem künstlerischen Tun vergleichbar. Auch in künstlerischen Schaffensprozessen wird mit Ordnungen gespielt, die neue Sichtweisen eröffnen und potenziell zu etwas Neuem führen können. Sie verschreiben sich so gesehen in der Struktur dem Ereignis, in dem Sinn entsteht, aus dem Sinn im Tun hervorgeht. Das kindliche Spiel hat mit unserer Welt zu tun und schafft dennoch eine eigene Welt. (10) Es rührt uns (Erwachsene) an und unterbricht uns in den Gewohnheiten, Welt zu sehen bzw. zu deuten. Das Potenzial des Theaterspiels wie aber auch das des kindlichen Spiels haben so gesehen eines gemeinsam: Aus etwas, das Teil eines Bedeutungs- und Darstellungseinheit war, lassen beide etwas Anderes entstehen. Dieses Andere entzieht sich der Eindeutigkeit zugunsten einer Mehrdeutigkeit bis hin zu einem Entzug von Bedeutung oder einer Verfremdung und schafft mit Merleau-Ponty gesprochen einen überschuss an Sinn.
Künstlerisches Arbeiten setzt uns jedoch im Unterschied zum kindlichen Spiel bewusst neuen Ordnungen auf dem schwankenden Boden unserer Wahrnehmung und damit unseres Urteilens aus. Kindern einen Weg zu einer künstlerischen Arbeit zu bahnen erfüllt so gesehen ein Doppeltes. Die Erwachsenen zeigen ihnen, wie sie künstlerisch arbeiten, und gleichzeitig besteht die Chance, die Kinder darin abzuholen, was ihnen schon im eigenen Spiel und durch ihr Spielvermögen gegeben ist: Die Welt und sich selbst zu finden und zu erfinden (vgl. Westphal 2009, 171). (11) Das folgende Beispiel führt uns vor, auf welche Weise (Alltags-)Wirklichkeit(en) vom Kind wahrgenommen werden und wie sie im Rahmen einer Performance unter professioneller Anleitung an verschiedenen Orten (mit jeweils anderen Kindern) aufgegriffen und inszeniert werden konnten.
### “Bauen nach Katastrophen”. Eine Performance mit Kindern von Eva Meyer-Keller und Sybille Müller
Auf eine ungewöhnliche Weise initiieren die Performance-Künstlerinnen Eva Meyer-Keller (Berlin) und Sybille Müller (Berlin) eine Performance-Installation mit Kindern für Kinder und Erwachsene an der Schnittstelle von Bildender und Darstellender Kunst. Die Installation mit dem Titel: "Bauen nach Katastrophen" (Festival Natura Dèi Theatri in Parma 2007; Kampnagel-Fabrik Hamburg 2008) zeigt einen performativen Zugang zu einer selten - insbesondere auch für Kinder - in den Blick gerückten Problematik in der Kunst. Katastrophen sind eine extreme, ja eine ungeheuerliche Fremdheitserfahrung, sei es solche von Menschen Hand (politische, aber auch alltägliche Ereignisse wie ein Unfall) verursachte oder naturbedingte. Das Genuine daran ist, dass das Individuum die Erfahrung im Sinne eines Widerfahrnisses macht. Es ist einem Geschehen ausgesetzt und darin verwickelt, ohne es in der Regel selbst verursacht zu haben. Katastrophale Geschehnisse lösen grundsätzliche und existentielle Irritationen aus, die in einer Nachmodellierung die Erfahrung machen lässt, dass sie sich in Wissen und Können nicht transformieren lassen. Eine Modellierung durch eine künstlerische Bearbeitung ist hier eher als ein Versuch zu sehen, diese Erfahrung als ein Entzug offen zu legen.
Das Konzept für die Produktion von Eva Meyer-Keller und Sybille Müller knüpft nun zunächst an eine Erfahrungsweise an, die insbesondere der kindlichen nahe kommen dürfte, insofern gerade Kinder Experten im Erforschen von Alltagsmaterialien und Beobachten von Vorgängen - also schon den alltäglichen Katastrophen - in ihrem Umfeld sind. Hinzu kommt, dass überschwemmungen und Vulkanausbrüche am Aufführungsort in Italien Themen sind, die in kultureller wie erzählter und vielleicht auch für manchen Zuschauer in erlebter Form einen Bezug herleiten dürfte. Am Aufführungsort Kampnagel in Hamburg dürfte das Thema am Modell der Sturmflut ebenfalls einen entsprechenden Hintergrund mit Blick auf die existentielle Tragweite dieser Thematik bedeutet haben.
Gemeinsam mit den Kindern erarbeiten die Künstlerinnen mit Hilfe von alltäglichen Gegenständen wie Streichhölzer, Zuckerstücke, Mehl, Pudding, Wasser, Föhn, Mixer, Zange und Papier in quasi Versuchsanordnungen Katastrophenmodelle, die zusätzlich mit den Mitteln der Kamera, die die Kinder selber bedienen, und von einem Sounddesigner (Jeff McGrory) begleitet werden. Konstitutiv für dieses Projekt ist der praktisch orientierte, werkstatttypische Produktionsprozess der Kinder, bei dem die Wiederholung und die Zerlegung von Naturkatastrophen wie Sturmflut, Erdrutsch, überschwemmung, Vulkan oder Hagelschlag usf. sowohl in der Verkleinerung (das Modell beschränkt sich auf die Größe eines Serviertabletts) als auch in der Vergrößerung (mit den Mitteln der Kamera erscheint das Modell in der Nahaufnahme vergrößert) und Vertonung (mittels Alltagsmaterialien wie Papier, Steropor und dergleichen mehr werden Geräusche hervorgebracht, verfremdet, übertragen und nachträglich in Verbindung mit dem Bild gebracht) für das tätige Kind und den Zuschauern in einer zeitlichen Verschiebung mitvollziehbar werden (vgl. Burk 2009, 185f.; Müller 2009 S. 193f.). Durch die Inszenierung wird sicht- und hörbar, was in der alltäglichen Realität der Verbreitungs- und Massenmedien übergangen, abgedrängt und vergessen wird, nämlich ein Be-greifen der kulturell, medial oder virtuell vermittelten Mitteilung des Gesehenen und/oder Gehörten von katastrophalen Ereignissen, wie sie sich stofflich und akustisch als Faltungen, Einschlägen, überwerfungen, Verschiebungen, Prasseln, Quellungen, Sog und Druck, Brand und Wind, Blitz und Donner etc. - also Widrigkeiten bzw. einem Aus-gesetzt-sein gegenüber übergeordneten Gewalten - hier nun auf ein Modell reduziert und künstlerisch "fremd gemacht" - verhalten.
Für den Betrachter zeigen sich verschiedene Einsichten auf die Präsentation. Auf Tischen wird das Material und Werkzeug gezeigt, mit dem gearbeitet wird. Auf verschiedenen rollenden niederen Tischen sind die Versuchsanordnungen für die einzelnen Aktionen aufgebaut, die man aus der Nähe nachvollziehen kann. Zugleich gewähren Bildschirme Einsicht in das innere Geschehen der hergestellten "Katastrophenverläufe" und zeigen in Großaufnahmen, wie sich Strukturen, Gestalten, Muster oder Farben etc. während des Versuchs verhalten und verändern. An einer anderen Stelle im Raum sind die "Tonstation", an der vor Mikrofonen Geräusche zu den Bildern der Aktionen ge- und erfunden werden, und die Technik - bedient von einem Sounddesigner - einsehbar aufgebaut. Die einzelnen "Katastrophen" werden von den Kindern und den Künstlerinnen in einer Art rhythmisiertem und choreografiertem Ritual gemeinsam vorgestellt. Dabei wird sich mit Zeichen verständigt, denn jeder Handgriff, der einmal aus dem Experiment erwachsen ist, muss nun zur Präsentation wiederholbar gemacht werden und verlangt von den Kindern ein hohes Maß an Konzentration, Disziplin und Abstimmungsbereitschaft für das Gesamtgeschehen. Die beiden Künstlerinnen treten dabei eher in den Hintergrund und helfen den Kindern dabei, die Struktur des Ablaufes zu realisieren.
Das Besondere dieser Installation benennen die Künstlerinnen wie folgt: “In diesem Projekt werden Kindern keine erwachsenen Worte in den Mund gelegt, sondern Kinderideen werden zu ,erwachsenen Ideen, weil sie eine Phantasiewelt eröffnen, von der wir profitieren können und weil sie Teil einer Gesamtkonzeption sind, die gerade mit der Phantasie bzw. den Assoziationen des Zuschauers spielt.” (Meyer-Keller/Müller 2009, 193) Die Performancemacherinnen Meyer-Keller/Müller lassen die Kinder selbst finden und erfinden und darüber reflektieren, was sie wie hervorgebracht haben. Eingekauft und vorbereitet wird, was am Ort der Installation im Supermarkt zu finden ist. Mit den wechselnden Orten für eine Präsentation wird jeweils mit anderen Kindern gearbeitet. Auf diese Weise entstehen jedes Mal andere Entwürfe. Das Besondere dieser Installation ist auf dem Hintergrund der vorangegangenen theoretischen Ausführungen fernerhin, dass hier “Kunst und Lernen” in einen Zusammenhang gebracht wird, der physikalische-ästhetische Experimente mit performativen Elementen und allem, was sich thematisch daran bindet, in eine produktive Auseinandersetzung bringt. Kunst ist dann nicht mehr eine Sache, die sich gegen Technik und Wissenschaft verhält, sondern mit den Mitteln von Wissenschaft und Kunst zu eigenen Artikulationen und Ausdrucksformen er-findet.
Bilder:Supermarkt
Aufführungsort Kampagel Hamburg 2008 Foto: Anja Beutler (1 MG 5344)
Soundtisch von Jeff McGrory
Sound von Elia. Foto: Eva Meyer-Keller
Skizze von Anton zur Sturmflut Hamburg 2008 Foto: Eva Meyer-Keller
Anton beim Aufbau der Sturmflut. Foto: Eva-Meyer-Keller
Teilansicht auf Materiallager. Foto: Eva Meyer-Keller
Sturmflut im Bild. Foto: Anja Beutler
### Literatur
Benjamin, Walter: Versuche über Brecht. Frankfurt/M. 1966
Brecht, Bertold: Kleines Organon für das Theater. In: Ders. Gesammelte
Werke, Bd. 16, Schriften zum Theater 2. Frankfurt/M. 1967
Burk, Karin: Aspekte der Geste im Kindertheatermodell Walter Benjamins. In: Westphal, Kristin/Liebert, Wolf-Andreas (Hg.): Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Wissenschaft und Künste im Dialog über Bildung. München/Weinheim 2009, S. 185-192 Goehler, Adrienne: Verflüssigungen. Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft. Campus: Frankfurt/New York 2006
Fischer-Lichte, Erika: Performance. In: Fischer-Lichte, Erika, Kolesch, Doris, Warstat, Matthias: Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart, Weimar 2005, S. 231-242
Kneip, Winfried: Das dritte Feld. Oder: Welche Kompetenzen vermitteln die Künste? In: MUS-E Zeit 2007, S. 6-8 Meyer-Keller/Eva/Müller, Sybille: Bauen nach Katastrophen. Eine Performance von Kindern. In: Westphal, Kristin/Liebert, Wolf-Andreas (Hg.): Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Künste und Wissenschaft im Dialog über Bildung. Juventa: München, Weinheim 2009, S. 193-202
Hentschel, Ulrike: Brauchen wir ein Kultur-PISA? Möglichkeiten und Grenzen der Evaluation ästhetischer Bildung. In: Jurké, Volker/Linck, Dieter/Reiss, Joachim (Hrsg.): Zukunft Schultheater. Das Fach Theater in der Bildungsdebatte. Edition Körberstiftung Hamburg 2008, S. 127-135
Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Freiburg/München 1992, 3.Aufl.
Lippitz, Wilfried: Selbständige Kinder im Kontext ihrer Lebenswelt. In: Lippitz, Wilfried: Differenz und Fremdheit. Frankfurt/M. 2003, S. 129-164
Lippitz, Wilfried: Bildung und Alterität. In: Handbuch der Erziehungswissenschaft. Hrsg. von G. Mertens et al. Bd. 1. Würzburg 2008
Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1964
Merleau-Ponty, Maurice: Keime der Vernunft. Vorlesungen an der Sorbonne 1949-1952. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Bernhard Waldenfels und aus dem Französischen übersetzt von Antje Kapust. Fink: München 1994
Roselt, Jens: Phänomenologie des Theaters. Fink: München 2008
Schweeger, Elisabeth (Hg.): Bernhard Waldenfels. Philosophische Salons. Frankfurter Dialoge II. schauspielfrankfurt, Frankfurt/M. 2004
Valéry, Paul: Cahiers Hefte 6. Frankfurt/M. 1993
Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I. Suhrkamp. Suhrkamp: Frankfurt/M. 1997
Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Suhrkamp Frankfurt/M. 2005 Westphal, Kristin (Hg.) Möglichkeitsräume im theatralen Spiel. In Bilstein, J./Winzen, M./Wulf Ch. (Hg.): Anthropologie und Pädagogik des Spiels. Weinheim München 2006
Westphal, Kristin/Liebert, Wolf-Andreas (Hg.): Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Künste und Wissenschaft im Dialog über Bildung. Juventa: München, Weinheim 2009
Westphal, Kristin: Zur Aktualität der Künste im Morgen. Am Beispiel von Theater mit Kindern für Erwachsene. In:
Westphal, Kristin/Liebert, Wolf-Andreas (Hg.): Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Künste und Wissenschaft im Dialog über Bildung. Juventa: München, Weinheim 2009, S. 171-184
Winzen, Matthias: Eine eigene Form der Wissenschaft Kunst. In: Bilstein, Johannes/Dornberg, Bettina/Kneip, Winfried (Hg.): Curriculum des Unwägbaren. I. ästhetische Bildung im Kontext von Schule und Kultur. Athena: Oberhausen 2007 Autorin: Prof. Dr. Kristin Westphal, Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz, Fachbereich 1 Bildungswissenschaften, IfGP. http://www.uni-koblenz.de/~westphal/
1.Diesen Thesen und Fragen widmet sich eine Veröffentlichung von Kristin Westphal und Wolf-Andreas Liebert (Hg.): Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Künste und Wissenschaft im Dialog über Bildung. Weinheim/München 2009.
2.So zielt die Gegenstellung des klassischen und romantischen Bildungskonzepts auf die Arbeitswelt, auf das (natur)-wissenschaftlich-technische Wissen. Un-vereinbar wäre also von daher nicht Bildung und Künste, sondern seit dem 19. Jahrhundert Künste/Bildung gegen Technik, Wissenschaft. Vgl. dazu Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik 2007. Die neuere Bildungsdiskussion begreift Bildung als Unverfügbarkeit von Selbstbildung im Horizont von Alterität, sie hält an Kontingenz, Unverfügbarkeit, auch Fremdheit und Alterität wie auch Kreativität usf. fest. Vgl. Benner/Oelkens: Historisches Handbuch der Pädagogik 2004.
3.Vgl. Valéry, Paul: Cahiers Hefte 6. Frankfurt/M. 1993, S. 26
4.a.a.O. S. 25
5.Vgl. die Einführung in die Studien von Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Suhrkamp Frankfurt/M. 2006
6.Vgl. hierzu die Anregungen von Bernhard Waldenfels, die er im Rahmen der Philosophischen Salons Frankfurter Dialoge II am schauspielfrankfurt vorgetragen hat und meinen Ausführungen unterlegt sind. Die Gespräche von Waldenfels mit Gästen sind veröffentlicht unter der Herausgeberschaft von Elisabeth Schweeger Frankfurt/M. 2004.
7.Vgl. Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen. Freiburg/München 1992, 3.Aufl. S. 219f.; Waldenfels differenziert dahingehend, dass die Welt des Zwischen neben der intersubjektiven Ebene auch die Welt in mir selbst betrifft, die er auf der intrasubjektiven Ebene als "Fremdheit meiner selbst" bezeichnet. In: Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden. Frankfurt/M. 1997, S.27.
8.Brecht, Bertolt: Kleines Organon für das Theater. In: Ders. Gesammelte Werke, Bd. 16, Schriften zum Theater 2. Frankfurt/M. 1967, S. 680.
9.Vgl. Patrick Primavesis Artikel zur "Verfremdung", in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Mathias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart 2005, S. 377-379, hier: S. 378 mit weiteren Hinweisen zu den Quellen von Brechts Auffassung.
10.Vgl. die überlegungen von Jörg Zirfas zu Scheuerls pädagogischen Theorie des Spiels von 1954 und Zirfas' Versuch, die Kriterien an das Theaterspielen in der Schule anzulegen. In: Liebau, E./Zirfas, J. (Hg.): Die Sinne und die Künste. Bielefeld 2008, S. 130f.
11.Vgl. die Ausführungen von Bernhard Waldenfels zum Verständnis von Finden und Erfinden. Er begreift eine Erfindung als einen Prozess des Erfindens und den Fund als Resultat dieses Prozesses. Der Prozess orientiert sich am Vorgefundenen und folgt einer Umgestaltung oder Umstrukturierung im Prozess des Erfindens. In: Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt/M. 2004, S. 162ff.