Download PDF Version


Bauen nach Katastrophen

Kristin Westphal, Wolf-Andreas Liebert (Hg.): Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Wissenschaft und Künste im Dialog über Bildung. Weinheim: Juventa Verlag, S. 193-202. | 2009

von Eva Meyer-Keller, Hanna Sybille Müller

Idee und Konzeption: Eva Meyer-Keller, Sybille Müller

Mit: 2-5 Kindern im Alter von 10 - 12 Jahren

Sound: Jeff McGrory

Bauen nach Katastrophen ist eine Performance von Kindern für Erwachsene. Im Basteln sind Kinder Spezialisten. Ihr Ansatz ist nicht konzeptionell, sondern entspringt einer natürlichen Entdecker- und Experimentierfreude. In diesem Projekt werden Kindern keine erwachsenen Worte in den Mund gelegt, sondern Kinderideen werden zu "erwachsenen" Ideen, weil sie eine Phantasiewelt eröffnen, von der wir profitieren können und weil sie Teil einer Gesamtkonzeption sind, die gerade mit der Phantasie bzw. den Assoziationen des Zuschauers spielt.

• Das Popcorn sind die Bäume und das Haus ist ein Haus.

• Und was ist das da?

• Das soll ein Fluss sein.

• Und was ist da drunter?

• Da drunter ist Kartoffelpüree.

• Also, das brennt nicht, hoffe ich.

• Hm, wird wohl nicht so schlimm werden.

• Also, wenn Tigerbenzin da drüber kommt, dann brennt das schon ganz schön.

• Hm, dann machst du die Kamera.

• Ich schütte als Vorbereitung, also kurz davor das Benzin drüber.

• Also, wo soll es denn anfangen zu brennen, eigentlich?

• Oder soll ich einfach mitten in der Mitte ein Streichholz rein werfen.

• Also, das könnt ihr jetzt noch kurz ausprobieren.

Waldbrand

Vorgeschichte des Projekts

Im Juni 2007 fand die Potsdamer Klimakonferenz Tipping Point: Dialog zwischen “Kunst und Klimaforschung” (PIK, Potsdam) statt, in der Wissenschaftler und Künstler sich über ihre Arbeitsschwerpunkte austauschen - dort haben wir eine erste Skizze des Projektes diskutiert, zusätzlich konnten wir bei der Tagung: Europäische Dramaturgie im 21. Jahrhundert in Frankfurt unser Projekt vorstellen.

Neben der Auseinandersetzung mit anderen Experten, haben wir ca. zwei Wochen, theoretisch und praktisch das Projekt vorbereitet, experimentiert und getestet. Schließlich gab es einen ersten Versuchsort in Parma im Dezember 2007 im Rahmen des Festivals Natura Dèi Teatri. In Parma haben wir mit Rocco und Elia, beide zehn Jahre alt, eine Woche lang gearbeitet und abschließend die Ergebnisse in einer 45 minütigen Performance präsentiert. Unser Team - Eva, Sybille und Jeff - war immer von 10 Uhr bis 19 Uhr vor Ort, und die zwei Jungs kamen von Mittwoch bis Freitag jeweils zwei Stunden und am Samstag und Sonntag vier Stunden. Die anschließenden Bilder und Texte beziehen sich auf den Veranstaltungsort Corte di Giarola in Collecchio bei Parma.

(Foto: Raumübersicht, MixerRoccoEva)

Erster Versuchsort: Corte di Giarola in Collecchio bei Parma

4.12. Dienstag

(Foto: Parma Supermarkt)

Einkaufen in der italienischen Metro. Wir suchen hauptsächlich Nahrungsmittel, aber auch alltägliche Dinge z.B. Papier, Folien, Schwämme. Die Produkte haben andere Farben, andere Namen und andere Formen. Sie sind teurer, dafür in der Regel qualitativ hochwertiger. In der Metro gibt es keine quadratischen Zuckerwürfel, und Streichhölzer kann man nur in Tabakgeschäften erwerben. Die Produktunterschiede sind spannend und machen Lust auf die Katastrophenmodelle. Mit kiloschweren Einkäufen fahren wir ins Theater. Damit alle Produkte gut sichtbar und erreichbar sind, bauen wir uns mit Tischen und Regalen ein Materiallager. Der Rest des Tages füllt sich mit Listen, von Dingen die es noch zu besorgen gilt und mit Gedanken wie wir den Raum aufteilen und organisieren. Wo werden die Mikrophone stehen? Wie kommen wir gut an das Materiallager? Wo müssen wir die Technik - das Videomischpult und den Videomixer aufbauen?

(Foto: Materiallager oder KataTisch 1-3)

Das Material soll kategorisiert werden. Wir haben uns acht verschiedene Kategorien überlegt:

(Foto: tischsnaps1)

Pulvriges, Körniges, Festes, Flüssiges, Flaches, Weiches, Gefährliches und die Kategorie der Werkzeuge. Alle Einkäufe und das Material, das wir mitgebracht haben werden aufgeteilt und mit einem farbigen Aufkleber markiert. Jede Kategorie hat eine bestimmte Farbe. Wir wollen keine Grenzen im Modellbau setzten, die einzige Bedingung ist, dass der Arbeitsplatz später wieder genauso aussieht wie vorher und dass das Modell rekonstruierbar ist. Das Aufräumen soll ein Teil der Arbeit mit den Kindern werden und die farbigen Aufkleber und die Kategorien sollen ihnen dabei helfen.

5.12. Mittwoch - Material und Geräusch

(Foto: sound 1-3, evtl. soundElia und soundRocco)

Katastrophen sind ein schweres und oft trauriges Thema und das Basteln mit größeren Mengen an Essen ist ebenfalls nicht alltäglich. Um das Außergewöhnliche unseres Vorhabens zu unterstreichen, beginnen wir das Projekt mit einem Sprungritual. Ein Sprung in die Phantasiewelt der Katastrophenmodelle. Jeden Tag springen wir auch wieder aus dieser Welt heraus.

Der erste Tag ist dem Ohr gewidmet, die Materialien sollen durch Anfassen und durch die Geräusche, die sie machen, sinnlich erfahren werden.

Dazu machen wir eine übung mit Rocco und Elia: Jeder sucht sich ein bestimmtes Material aus und testet wie sich das vor einem Mikrofon anhört, alle anderen sehen und hören zu. Zu dem Material kommt die Technik. Es gibt drei verschiedene Mikrofone, ein Kondensatormikrofon, ein Grenzflächenmikrofon und ein Dynamisches Mikrofon, die unterschiedlich sensibel sind. Rocco und Elia lernen durch verschiedene übungen mit den Mikrofonen und den Materialien umzugehen. Sie lernen wie nah sie an das Mikrofon heran gehen können, und welche Geräusche sie z.B. mit Linsen produzieren. Am Ende des Tages hat jeder von uns zehn Minuten Zeit sich ein Geräuscheszenario zu entwickeln, dass sich auf eine bestimmte Katastrophe bezieht. Diese Szenarien führen wir uns gegenseitig vor. Jeff nimmt die Geräusche auf, sodass wir uns die Geräuschszenarien noch mal anhören. Durch das Anhören geben wir den Assoziationen Raum sich zu entfalten. An diesem Tag hören wir einen Großbrand, einen schmelzenden Gletscher und einen Vulkan.

Für morgen können sie sich ein neues Geräuscheszenario überlegen.

6.12. Donnerstag - Geräusch und Kamera

Am zweiten Tag wollen wir ein weiteres Geräuscheszenario entwerfen, das von mehreren Personen ausgeführt wird, wie bei einem kleinen Orchester. Außerdem wollen wir mit und vor der Kamera arbeiten, das Sinnesorgan Auge soll angesprochen werden.

Erneut wird ein Geräuscheszenario vorbereitet, diesmal werden Assistentenrollen vergeben, und der Autor des Szenarios bestimmt den Ablauf, also wer wann was macht und vor welchem Mikrofon. Wir führen es uns gegenseitig vor. Dieses Mal performen wir einen Meteorit, einen Sturm und eine überschwemmung. Durch die Assistentenrollen wird das Szenario dichter und der Autor muss wie ein Dirigent agieren. Zum Anhören legen wir uns auf den Boden. Das Zuhören wird zu einem Teil der Geräuscheszenarien und später zu einem Teil der Performance.

Für die Performance am Sonntag wollen wir nur ein Szenario vorstellen. Wir entscheiden uns für den schmelzenden Gletscher, den Meteorit und den Großbrand. Diese Geräuscheszenarien werden mit Titel, Anzahl und Namen der Assistenten und des Autors auf ein Blatt Papier geschrieben und an die Sammelwand gehängt. Wir alle wissen durch die Zeichnungen wie ein Modell vorbereitet wird, wer es vorbereitet, wie viele Assistenten es gibt und wer welche Aufgaben zu übernehmen hat. Dadurch sind wir in der Reihenfolge flexibel.

Nach einer Pause kommen wir zum zweiten Teil - dem visuellen Teil. Wir arbeiten zuerst mit der Videokamera. Die Kamera ist nach unten auf einen Rollwagen gerichtet und ein Monitor überträgt das Bild auf einem Fernsehbildschirm. (FOTO: wir 4 vor TV) Die zwei Jungs tasten entweder mit dem Finger oder mit einem Stift den Rand des Kamerabildes ab, dann platzieren sie ein Tablett in der Mitte des Bildes, und schließlich schütten sie verschiedene Materialien z.B. Zucker oder Linsen in der Mitte des Bildes auf ohne dabei mit den Fingern in das Bild zu kommen. Mit diesen Materialbergen inszenieren wir mehrere Erdbeben. Jeder schlägt mit seinen Fäusten im Kanon auf den Rollwagen, und wir beobachten auf dem Fernsehbildschirm wie die Berge in sich zusammensacken. Es ist viel Information für die Jungs, sie sind mehr mit dem Material beschäftigt als mit dem Fernsehbild. Auch diese kleinen Videosequenzen nehmen wir auf und sehen sie uns gemeinsam noch einmal in Ruhe an.

Zum Abschluss schreiben wir zusammen eine Liste mit allen Katastrophen, die sie kennen und füllen sie an mit denen, die wir vermissen.

7.12. Freitag - Kamera und Modelle

Dieser Tag soll den Katastrophenmodellen gewidmet sein. Rocco und Elia sollen ihr eigenes Katastrophenmodell entwickeln und vorführen. Wir haben ebenfalls zwei Modelle vorbereitet, die wir mit den beiden Jungen als Assistenten vor der Kamera inszenieren wollen.

Zum Einstieg sehen wir uns noch mal das Zuckererdbeben von gestern an. Danach entscheiden sich Rocco und Elia für eine Katastrophe, und wir helfen ihnen bei der Umsetzung. Bevor sie mit ihrem Modell anfangen machen sie eine Skizze von ihrem Modell und den Bestandteilen. Diese Skizze wird am Ende noch vervollständigt und ebenfalls an die Sammelwand gehängt. Wir haben eine große Menge Reis und Kartoffelbrei als Grundmaterial gekocht. Es gibt ca. 20 Minuten Vorbereitungszeit, dann präsentieren wir uns gegenseitig die Modelle. Rocco hat sich für einen Meteoriteneinschlag entschieden und Elia für eine überschwemmung. Die Beiden sind viel mehr mit dem Fernsehbild beschäftigt als gestern. Sie schaffen es sowohl das Modell als auch den Bildschirm im Blick zu behalten. Im Anschluss inszenieren wir mit den Beiden auch noch einen Erdrutsch und ein weiteres Erdbeben.

(Foto: Meteoriteneinschlag, DrawingFloodElia, DrawingMeteorRocco)

8.12. Samstag: 14h-18h

(Foto: Tornado)

An diesem Tag werden Rocco und Elia ein zweites Katastrophenmodell entwickeln, und wir wollen alle zusammen den kompletten Ablauf für den morgigen Tag besprechen und durchgehen.

Wir haben einen schmelzenden Gletscher, einen Großbrand, zwei Meteoriten (Geräusch und Modell) eine überschwemmung, einen Erdrutsch und ein Erdbeben. Morgens haben wir einen Vulkan und eine Explosion vorbereitet, die ebenfalls in den Ablauf integriert werden sollen. Welche fehlen jetzt noch? Wir haben eine Fotosammlung mitgebracht, die sich Elia und Rocco anschauen. Es gibt auch die Katastrophenliste, die wir am Donnerstag gemeinsam gemacht haben. Rocco möchte sich mit einem Tornado beschäftigen, Elia mit einer Verwüstung. Elia entscheidet sich für grünen Wackelpudding und Rocco für Eischnee als eines der Basismaterialien, solche Bestandteile müssen vorbereitet bzw. zubereitet werden. Jeder hat erneut Zeit sein Katastrophenmodell vorzubereiten und vorzuführen. Wir helfen als Assistentinnen.

Bevor wir den Durchlauf starten, müssen alle Modelle vorbereitet werden. Das Vorbereiten dauert ca. eine Stunde und erfordert viel Konzentration.

Zu Beginn machen wir ein paar Konzentrations,- und Bewegungsübungen um ruhigere Finger und um ein erhöhtes Bewusstsein für die anderen zu bekommen. Diese übungen machen Spaß und kreieren eine Atmosphäre von Performance. Der Durchlauf läuft gut und nach unserem Sprungritual verabreden wir uns zum Vorbereiten aller Modelle für morgen.

9.12. Sonntag:

(Foto: Zettelwand2, vulkan1-3)

Die Vorbereitung nimmt viel Zeit in Anspruch. Bevor Rocco und Elia kommen, müssen wir vier Modelle vorbereiten, Reis und Kartoffelbrei kochen, das Materiallager auffrischen, den Raum bestuhlen und das Licht einrichten. Trotz der kurzen Vorbereitungszeit sind wir ein gut eingespieltes Team und die Performance läuft ohne Schwierigkeiten ab. In der Aufbruchsstimmung nach der Show erklären Rocco und Elia spontan die Modelle, also welche Katastrophen es waren und wie sie konstruiert waren. Nach einem letzten Sprung verlassen wir den ersten Versuchsort Corte di Giarola in Collecchio bei Parma und kehren zurück nach Berlin.

Ausblick

Das Projekt Bauen nach Katastrophen entwickelt sich immer weiter. Im Sommer 2008 kam Hamburg als zweiter Versuchsort hinzu, dort wurde das Projekt beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel mit fünf Kindern realisiert. Geplant sind für 2009 zwei weitere Versuchorte: Berlin/Hebbel-am-Ufer und die Lofoten, im Rahmen des Lofoten International Arts Festivals in Norwegen.



Related Projects

Newsletter anmelden hier