Christina RöferHarmlose Vorstellung? Eva Meyer-Kellers Inszenierung Death is certain als infames Wechselspiel der Wahrnehmung 2015

In: Julian Klein, Martin von Koppenfels, Marion Hirte (Hg.): Infame Perspektiven: Grenzen und Möglichkeiten von Performativität und Imagination. Berlin: Theater der Zeit 2015, S. 100-111.

36 ordentlich aufgereihte Kirschen sind am Ende eines langen, mit einer weißen Papiertischdecke abgedeckten Tisches platziert. Wie auf einem Labortisch liegen eine Vielzahl unterschiedlicher Haushaltsgegenstände akribisch aufgereiht, geordnet und zum sofortigen Gebrauch bereit. Die in schwarz gekleidete Performerin bindet sich eine weiße Schürze um und nimmt ihre Tätigkeit auf. Sie greift eine Kirsche, befreit sie von ihrem Stiel, wählt eine Rolle Zahnseide sowie eine Rolle Klebeband aus den Gegenständen aus und geht zu einem zweiten, ebenfalls mit einer weißen Papiertischdecke abgedeckten Tisch hinüber. Sie reißt dann ein Stück Zahnseide von der Rolle und bindet den Faden um die Kirsche, die durch das Einschneiden des Fadens einen kleinen roten Saftfleck auf der weißen Tischdecke hinterlässt. Anschließend klebt sie das andere Ende des Fadens an der Tischkante fest und legt die Kirsche für einen kurzen Moment auf den Klebestreifen, bevor sie diese mit einem schnellen Antippen des Zeigefingers von der Tischkante stößt, sodass die Kirsche am Zahnseidefaden in der Luft baumelt.
An anderer Stelle beginnt die Performerin, einzelne Heftzwecken rundherum in einen Plastikbecher zu stecken, sodass die Nadelspitzen ins Innere des Bechers zeigen. Sie bastelt, so ahne ich allmählich, auf diese Weise eine Eiserne Jungfrau, in die sie eine Kirsche hineingibt und diese grausam zu Tode schüttelt. Zurück bleibt ein unkenntlicher Klumpen in dem tödlichen Gefäß, dessen Wände aussehen, als seien sie mit rotem Blut und Fleischfetzen besudelt.
An wiederum anderer Stelle zieht die Performerin einer Kirsche langsam rundherum die Haut ab und bestreut ihr rohes, blutiges Fleisch mit brennendem Salz. Spätestens da läuft mir als Zuschauerin ein Schauer über den Rücken, doch die Performerin wendet sich seelenruhig wieder zum Utensilientisch und befreit die nächste Kirsche von ihrem Grün.

Diese drei Beispiele deuten in der Art ihrer Beschreibung auf ein bestimmtes Wahrnehmungsphänomen hin, das sich beim Anschauen der Inszenierung Death is certain von Eva Meyer-Keller ereignet. Während sich das Gesehene einerseits relativ nüchtern und sachlich beschreiben lässt, hat es sich andererseits für mich als Rezipientin auch ungleich dramatischer zugetragen. Ich bin soeben Zeugin von brutaler Folter und kaltblütigem Mord im Minutentakt geworden; ich sah die Henkerin und ihre Opfer, die aufgereiht neben den zahlreichen Folter- und Mordinstrumenten lagen und wehrlos auf ihre Marter warteten. Ich sah Blut fließen, Haut einreißen und Körper aufplatzen. Und ich konnte beobachten, wie sowohl die weiße Papiertischdecke als auch die Schürze der Performerin im Laufe der Zeit immer mehr blutrote Flecken aufwiesen; wie sich immer mehr Überbleibsel auf dem Tisch verteilten, die auf die Grausamkeiten hinwiesen, die sich hier der Reihe nach ereigneten. Und dabei sah ich doch eigentlich nur eine Frau, die mit Kirschen und Haushaltsgegenständen hantiert, oder? »[D]as, was ich hier mache ist eigentlich ganz harmlos«, erklärt Meyer-Keller in einem Interview, »Es wird nur in der Phantasie des Publikums zu Mord und Gewalt.« (1)
Hier klingt bereits an, dass mir als Zuschauerin im Inszenierungsprozess eine entscheidende Rolle zugesprochen wird, denn erst in meiner Wahrnehmung wird das Gesehene vervollständigt. Erst meine Vorstellung lässt das An-die-Wand-Nageln einer Kirsche zur Kreuzigung werden, lässt die Kirsche plötzlich menschlich und die Handlung schmerzhaft und brutal erscheinen. In der Kombination von Gesehenem und Imaginiertem erfahren die eigentlich leblosen Objektkörper also eine Anthropomorphisierung. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass sich im Falle der Kirsche eine Belebung und Vermenschlichung vor allem in Momenten des vorgestellten und mitgefühlten Schmerzes durch die ZuschauerInnen ereignet. Durch das Spiel der Wahrnehmungsebenen eröffnet sich somit eine infame Szenerie, die zwischen demonstrierter Unschuld und grausamem Ernst changiert.

Drei verschiedene Komponenten machen die Grundsituation des Geschehens in Death is certain aus: Zunächst gibt es die Performerin, die als Täterin in Erscheinung tritt, aktiv handelt und das Geschehen vollständig unter Kontrolle hat. Ruhig und gelassen vollführt sie eine Handlung nach der anderen, scheint stets konzentriert und ihr ernster Gesichtsausdruck lässt keine Gefühlsregungen durchscheinen. In ihrer Haltung als Performerin versucht sie zu keinem Zeitpunkt der Inszenierung darüber hinwegzutäuschen, dass sie mit Kirschen hantiert. Doch die Motivation ihres Handelns bleibt undurchsichtig. Es gibt keine Anzeichen einer Erklärung für das was sie tut. »Sie tut, was zu tun ist, nicht mehr und nicht weniger.«, so beschreibt es Tim Etchells. (2)
Dabei hantiert sie des weiteren mit zweierlei Arten von Objekten. Ihre Hilfsmittel sind Haushaltsgegenstände – Küchengeräte, Hygieneartikel, Werkzeuge, Büroartikel, Spielwaren und dergleichen – die in den Händen der Performerin zu Folterinstrumenten und Mordwerkzeugen werden. Dafür werden sie teils zweckentfremdet, wenn z. B. ein Löffel plötzlich zum Katapult umfunktioniert wird oder Zuckerwürfel als Ziegelsteine eingesetzt werden, die eine Kirsche ummauern. Im Falle der bereits beschriebenen Eisernen Jungfrau oder etwa der mit Hilfe von Plastikbecher, Strohhalm, Frischhaltefolie und Zigarettenqualm erzeugten Gaskammer werden die Folter- bzw. Mordinstrumente vor den Augen der Zuschauenden gebaut. Zum Großteil werden die Gegenstände jedoch in ihrer ursprünglichen Funktion gebraucht, bloß ist das Material, auf das sie einwirken, ein anderes als im Alltag. So wird eine Kirsche durch eine Parmesanreibe gedreht, eine weitere wird mittels der rauhen Oberfläche einer Nagelfeile gehäutet und wiederum eine andere mit einem Akkubohrer durchlöchert.
Die Opfer der Performerin, die Kirschen, sind schließlich naturgegenständliche Objekte. In ihrer Fleischlichkeit und Verletzlichkeit weisen sie bereits gewisse Parallelen zum menschlichen Körper auf und es ist vor allem ihr roter Saft, der in diesem Kontext unweigerlich an Blut erinnert. Wieder sind es somit ikonische Zeichen, die für die ZuschauerInnen auf potenzielle Schmerzen hindeuten. Die Kirschen sind ihrer Henkerin vollkommen ausgeliefert; sie können sich weder rühren, noch können sie schreien. Wehrlos erdulden sie alles und lassen jegliche Folter über sich ergehen. Die Anthropomorphisierung erfolgt hier also weniger über eine Animation und ein scheinbar menschliches Handeln der anthropomorphen Objektkörper, sondern es ist viel mehr die Art und Weise der Behandlung der Objekte durch die Performerin, die sie belebt: Den Objekten wird hier etwas angetan.
Indem die Haushaltsgegenstände umfunktioniert oder ungewöhnlich kombiniert werden, und indem an den Kirschen Handlungen vollzogen werden, die eklatant abweichen von ihrer herkömmlichen Verarbeitung, werden die Objekte entkontextualisiert und damit dem gewohnten Blick entfremdet. Dies trägt ganz entscheidend zur oben beschriebenen Wahrnehmungsverschiebung im Rezeptionsprozess bei, denn das Heraustretenlassen der Objekte aus ihrem gewohnten Umfeld ermöglicht eine neue Deutung derselben und eröffnet einen Raum für Projektion, Assoziation und Imagination. Meyer-Keller hat ihre ZuschauerInnen von Beginn an als aktiv produzierenden Part mitgedacht und baut auf deren verinnerlichte individuelle und kollektive Erfahrungen und Bildarchive. So sind es tatsächlich viele einzelne Bilder, die sie für jede Kirsche und mit ihr individuell und neu kreiert. Die Herstellung derselben wird dabei offen dargelegt: Ich sehe, wie der Zahnseidefaden um die Kirsche geknotet und festgeklebt wird und ich sehe, wie ihr Finger die Kirsche über den Rand des Tisches in den Abgrund stürzt. Zurück bleibt das Bild einer in der Luft baumelnden Kirsche. Mag dieses allererste Bild zunächst noch irritieren, da man das tödliche Dezimationsprinzip noch nicht sofort durchschaut, so wird das Verfahren mit der Zeit deutlich: Die Bilder verweisen auf allgemein bekannte Szenen aus der Geschichte, aus Märchen und Filmen oder den alltäglichen Nachrichten. Sie sind zum Großteil allgemein gehalten, wie etwa im Falle der auf dem Scheiterhaufen aus Streichhölzern verbrannten Kirsche. Die Grundsituation wird zwar sofort erkannt und lässt Assoziationen zu mittelalterlichen Hexenverbrennungen aufsteigen. Sie verweist jedoch auf keine konkrete, eindeutig datierbare oder einer Geschichte zuzuordnenden Situation. Anders hingegen das Bild der Kirsche, die mittels einer Sprühflasche komplett mit goldener Farbe überzogen und anschließend auf dem Tisch abgelegt wird. Wer nicht sehr besehen in puncto James Bond ist, steht diesem Bild vermutlich eher ratlos gegenüber, während KennerInnen das Bild mühelos als Anspielung auf Jill Masterson's Erstickungstod durch 'Vergoldung' in Goldfinger entschlüsseln.

Diese assoziativ hervorgerufenen Bilder treten nun wiederum in ein komplexes Wechselverhältnis mit dem Gesehenen auf der Bühne und machen so eine Affizierung der ZuschauerInnen möglich. Benjamin Wihstutz begreift die Wahrnehmung im Theater »als synästhetisches Bildereignis [...], bei dem sich die Aufmerksamkeit sowohl auf das inszenierte Theaterbild der Bühne als auch auf begleitende Vorstellungen und eigen-leibliches Spüren richtet. Es handelt sich um ein Spiel der Bilder, das sich zwischen Innen und Außen, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Präsenz und Repräsentation ereignet.« (3) Einbildung werde allgemein als eine innere Vorstellung verstanden, lasse sich zudem jedoch auch wörtlich als Ein-Bildung, also als ein Aufnehmen und Verinnerlichen von Bildern, verstehen. (4) Daraus schlussfolgernd, beschreibt er die Einbildung als »[...] ein Aufnehmen von >äußeren< Bildern der Wahrnehmung einerseits und ein Entstehen und Projizieren von >inneren< Bildern andererseits.« (5) Wahrnehmung und Imagination versteht er somit nicht als gegensätzliche, sondern vielmehr als in der Einbildung miteinander verwobene Elemente, die den Wahrnehmungsprozess der Zuschauer_innen grundsätzlich als ein Phänomen des Zwischen erscheinen lassen. (6)
Diesen »Kreislauf der Einbildung« (7) als Spiel zwischen Innen und Außen, wie ihn Wihstutz erläutert, erfahre ich in Death is certain in besonders starkem Maße. Sehe ich in einem Moment noch das leblose Objekt, so ist es im nächsten schon die vermenschlichte und zu Tode gequälte Kirsche. (8) Auch dieses Phänomen ist in der Inszenierung durch Meyer-Keller bereits angelegt. So wird nach jedem Bild, das stets mit dem Tod oder der stummen Qual der vorherigen Kirsche endet, die folgende Kirsche zunächst wieder als lebloses Objekt etabliert, indem, gleich einer für den Verzehr präparierten Kirsche, der grüne Stiel entfernt und auf einen dafür vorgesehenen Teller gelegt wird. Auch tritt das Objekt Kirsche direkt nach der an ihm vollzogenen Handlung wieder in den Vordergrund: Nach dem Erlöschen der Flamme liegt eine verbrannte Kirsche auf dem Scheiterhaufen, unter dem Tischbein hat sich eine kleine Pfütze Kirschbrei verteilt und am Bügeleisen klebt eine flachgebügelte Kirsche. Während ich also zum einen in meiner Wahrnehmung mit Erika Fischer-Lichte gesprochen zwischen die zwei Ordnungen der Präsenz und der Repräsentation (9) versetzt werde, bringt mich andererseits auch die Diskrepanz zwischen Form (ein Miniaturtheater mit Kirschen) und Inhalt (Folter- und Mordszenarien) der Inszenierung in eine zwiespältige Lage: Es ist das ständig wiederholte Prinzip des Folterns und Tötens, das zugleich stets neu und für jede der 36 Kirschen individuell ausgeführt wird, das mich einerseits eine perfide Freude daran entwickeln lässt, die vielen kreativen Arrangements zu beobachten und mir mit Blick auf den Utensilientisch auszumalen, was wohl der nächsten Kirsche widerfahren mag. Andererseits jedoch befällt mich mitunter ein ungutes Gefühl, denn geschähe das, was ich hier in Miniatur nachgestellt sehe mit einem menschlichen Körper, kann ich nur vage erahnen welche unsäglichen Qualen die/der Gefolterte bei einer derartigen Tortur erleiden muss.
Elaine Scarry beschreibt in ihrem Buch Der Körper im Schmerz die Folter als einen Akt der Zerstörung und Neu-Erschaffung von Welt. Für die Person, die ihr unterworfen ist, wird im Verlauf der Folter jedweder Glaube an die Welt, die sie kannte und jegliche Gewissheit, die sie mit ihr verband, zerstört. Die gesamte Umgebung – Räume, Dinge, Menschen – alles wendet sich im Akt der Folter gegen sie. (10) Alltägliche Dinge verwandeln sich während der Folter in »Agenten des Schmerzes« (11). Meyer-Kellers Inszenierung verzichtet bewusst auf eine sprachliche Ebene und verlagert den Schmerz vollkommen in die Vorstellung der ZuschauerInnen. Wenn Scarry von Gefangenen schreibt, die berichten, wie ihnen zunächst eine Reihe von Folterinstrumenten vorgeführt wurden, wird eine Strategie deutlich, die auf das Unsichtbarmachen von Schmerz abzielt. (12) Hier wird der Schmerz nicht explizit körperlich zugefügt und nicht hinausgeschrien, sondern es reicht bereits die Möglichkeit bzw. Imagination der Verletzung durch die Gegenstände aus, um der/dem Gefangenen Qualen zu bereiten. Somit wird deutlich, dass die Folter bereits mit der Vorstellung von Schmerz beginnt.
In Death is certain wird dieses Prinzip nun in den performativen Raum übertragen. Folter beginnt mit der Vorstellung des Schmerzes und Meyer-Keller versetzt ihr Publikum momenthaft in einen Zustand der imaginierten Qual. Es ist der Moment, in dem der Nagel in die Kirsche eindringt, der Moment, in dem die Kirsche ruckartig am Zahnseidefaden hängen bleibt, oder der Moment, in dem der Stecker eingesteckt und die Kirsche unter Strom gesetzt wird, in dem ich in meiner Vorstellung der Kirsche eine Form von Menschlichkeit zuspreche.
Das Geschehen changiert dabei stets zwischen der von Meyer-Keller konstatierten Harmlosigkeit und schmerzhaftem Ernst. Wie die Kirsche immer wieder als 'bloße Kirsche' und im nächsten Moment 'vermenschlicht' erscheint, so wechseln auch die Haushaltsgegenstände ihre Konnotation und bewegen sich zwischen den Polen Werkzeug und Waffe hin und her. Scarry macht den Unterschied zwischen diesen beiden 'Zuständen' eines Gegenstands an dem Material fest, auf das sie einwirken. So sei der Hammer, mit dessen Hilfe ein Mensch ans Kreuz genagelt wird, als Waffe zu verstehen; der Hammer, mit dem das Kreuz gebaut wurde, hingegen als Werkzeug. (13) Wurde oben bereits angemerkt, dass die Haushaltsgegenstände zum großen Teil ihrem normalen Gebrauch entsprechend verwendet werden, nur eben auf ein anderes Material einwirken als im Alltag, so muss diese Beobachtung hier noch einmal verschärft werden: In dem Moment, in dem der Nagel durch die Krafteinwirkung des Hammers in die Kirsche eindringt und diese in meiner Vorstellung menschliche Attribute erhält, verändern sich deren Bedeutungen. Das Fruchtfleisch steht nun für menschliches Fleisch und somit werden Hammer und Nagel zu verletzenden Waffen. Der Anthropomorphisierungsprozess zeigt sich hier deutlich als Transformationsprozess.
Ich muss nicht am eigenen Leibe erfahren haben, wie es ist, gehäutet und mit Salz bestreut zu werden, um es zumindest vage erahnen zu können – und sei es weil ich mich mit dem Küchenmesser in den Finger geschnitten und danach etwas Salziges berührt habe. Ich verfüge also über ein intuitives, verkörpertes Wissen über den Schmerz, das auf eigenen Erfahrungen, auf einem kollektiven Bilderfundus sowie auf der Fähigkeit des Ein- und Mitfühlens in mich umgebende Menschen und Situationen beruht, und das es mir möglich macht, außerhalb meines Körpers liegende Empfindungen – zumindest bis zu einem gewissen Grad – nachzuvollziehen.
Im Kontext der Performance nahezu ironisch scheint die Tatsache, dass die Etymologie des Wortes »Schmerz« auf eine s-Erweiterung des indogermanischen 'mer-d- zurückverweist, was etwa so viel wie »(auf)reiben« bedeutet, und im weiteren sprachgeschichtlichen Kontext mit Begriffen für »zerreiben«, »zerdrücken«, »zermalmen« oder auch »beißen« in engem Zusammenhang steht. (14) Hier findet sich bereits ein erster Verweis auf die Beschädigung der körperlichen Materialität, die dem Schmerz in der Regel zugrunde liegt und die im Falle von Meyer-Kellers Kirschen nur allzu wörtlich genommen wird. Diese werden in Death is certain mit unnachgiebiger Präzision zerstört. Sie werden tatsächlich zerrieben, zerdrückt, zermalmt und etliches mehr und gerade darin entfaltet sich im Wesentlichen auch die Drastik des Stücks. Der Schmerz transportiert sich dann vor allem über das Beobachten der tatsächlichen Beschädigung von (Kirsch-)Körpern sowie über ihre Farbsymbolik, die fleischliche Wunden sichtbar werden lässt.

Es ist genau diese im Moment des Schmerzes stark hervorgehobene Materialität der Kirschen, die wiederum eine außerordentlich körperliche Reaktion in der Rezeption hervorzurufen vermag. Wie oben geschildert, funktioniert das Erkennen der Bilder stark assoziativ und zu großen Teilen unbewusst. Für die Situation, der ich in Death is certain beiwohne, werden keinerlei rahmende Erklärungen geboten und der assoziative Entschlüsselungsprozess der Bilder als Folter- und Mordszenarien entfaltet erst im Verlauf des Stückes mit seiner repetitiven Handlungsstruktur sein volles Potenzial. Die mittelalterliche Hexenverbrennung sehe ich erst nach nach einem Prozess der Bedeutungszuweisung bzw. nach einer intellektuellen Kontextualisierung – die Drastik der brennenden, verschrumpelnden, ihre Farbe verändernden Kirsche, sowie den entstehenden Geruch und das leise Zischen beim Verbrennungsprozess erfasse ich jedoch sofort. (15) Wenn ich also angesichts des Geschehens erschaudere, so handelt es sich zunächst um einen unkontrollierten und unfreiwillig körperlichen Prozess der Rezeption. Für ein solches Prinzip der Affektion, das sich gerade durch Zufälligkeit, Plötzlichkeit und Unmittelbarkeit auszeichnet, schlagen Miriam Schaub und Nicola Suthor in der Einleitung ihres gleichnamigen Sammelbandes den Begriff der »Ansteckung« vor und ordnen ihn jenen akzidentellen Ereignissen zu, die eine bewusste Entscheidung der Betroffenen (dafür oder dagegen) ausschließen. (16) Fischer-Lichte erläutert den Begriff im Anschluss daran explizit im Zusammenhang des Zuschauens im Theater und stellt dabei zwei Aspekte dieser speziellen »ästhetische[n] Erfahrung« (17) besonders heraus: Zum einen handele es sich, so betont auch sie, um einen akut somatischen und unsteuerbaren Vorgang. Zum anderen hebt sie aber auch den liminalen Charakter der Ansteckung hervor. (18) Als medizinischer Begriff bezeichnet er zunächst den Vorgang der Kontamination des gesunden Körpers mit einem Krankheitserreger und somit eine körperliche Transformation. Der Keim befindet sich bereits im Körper, doch ob und wann die Krankheit ausbricht, ist nicht vorauszusagen. Die Ansteckung versetzt den Körper folglich in einen Zustand zwischen Gesundheit und Krankheit. (19) Diesen als Intervall gedachten Schwellenzustand findet Fischer-Lichte im übertragenen Sinne im Theater und der Performancekunst seit den sechziger Jahren vor allem in Momenten der Krisenerfahrung, die besonders durch die Irritation der Sehgewohnheiten, durch Grenzüberschreitungen und/oder die Fokussierung auf die Materialität und Prozessualität von Kunstwerken und Körpern eintreten können. (20) Ähnliche Faktoren wurden bereits für Meyer-Kellers Inszenierung herausgearbeitet. Begreift man die im Wahrnehmungsprozess einsetzende Erkenntnis, dass in Death is certain keinesfalls bloß Kirschen im Spiel sind, als Kontamination, so zeigen sich im Verlauf des Stücks viele kleine Ausbrüche der Krankheit. Nicht alle Bilder affizieren mich gleich stark; einige erscheinen vergleichsweise als harmlose Spielerei, wieder andere beeindrucken vornehmlich durch die Raffinesse ihrer Konstruktion. Tatsächlich darf der humoristische Aspekt bei aller hier konstatierten Grausamkeit auch nicht gänzlich in den Hintergrund treten, ist er doch ebenfalls zu großen Teilen konstituierendes Element der Inszenierung. So erfreut mich nicht nur der Ideenreichtum der Performerin, sondern ich lache vor allem auch über mich selbst, die ich mich beim Anblick einer zerdrückten Kirsche voller Unbehagen schüttele. Es sind die Momente, in denen ich meine eigene Wahrnehmung reflektiere und in denen mir die Diskrepanz zwischen dem Gesehenen und meiner Reaktion darauf bewusst wird, die mich der eigentlichen Absurdität meines Schauderns gewahr werden lassen und mich zum Schmunzeln bringen. Und doch erliege ich der Wahrnehmungsverschiebung immer wieder aufs Neue, treffen mich einzelne Bilder zunächst unvermittelt körperlich. Daran ändert auch das Durchschauen des Prinzips nichts – im Gegenteil kann die Ahnung der nachfolgenden Prozedur, die mich befällt, wenn ich die Annäherung der Nagelfeile an den Erdbeerkörper beobachte, die Reaktion noch steigern.

Ähnlich dem Konzept der »perzeptiven Multistabilität« (21), das Fischer-Lichte auf das Theater überträgt und in dessen Rahmen die Wahrnehmung beim Zuschauen unkontrolliert und sprunghaft zwischen den Ordnungen der Präsenz und der Repräsentation wechselt, habe ich also auch in Death is certain eigentlich immer wieder zwei Szenen vor Augen: Zum einen die objekthafte Kirsche, die auf einen Haufen Streichhölzer gelegt und angezündet wird und als verbrannte, objekthafte Kirsche danach zurückbleibt. Zum anderen jedoch auch eine auf dem Scheiterhaufen zu Tode kommende Kirsche, deren Qual im Verbrennungsprozess sich in mir ungewollt latent körperlich spürbar macht. Erst durch dieses 'Mitfühlen' wird die Grausamkeit des Geschehens wirklich offenbar. Es kann jedoch nur zustande kommen, wenn der Kirsche zuvor in meiner Vorstellung menschliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Die Kirsche kann nur leiden und sterben, wenn sie zuvor für einen Sekundenbruchteil in meiner Phantasie gelebt hat.
Die aufgezeigten Strategien der Involvierung und Distanzierung versetzen mich als Zuschauerin in einen Zwischenzustand und lassen mich gewissermaßen eine Doppelperspektive einnehmen. Harmlos gibt sich das Geschehen und es ist mitunter äußerst amüsant, die kreativen Einfälle der Performerin zu beobachten und die Präzision, mit der sie diese ausführt. Mit der gleichzeitigen Grausamkeit der Szenerie werde ich allein gelassen, denn sie findet nur in meinem Kopf statt. Auch kann das Gesehene nicht mehr ohne weiteres als 'harm-los' abgetan werden, denn in dem Moment, in dem mir die fleischliche Materialität der Frucht durch ihre Zerstörung vor Augen geführt wird, ahne ich ihren Schmerz.
Die Infamie liegt in Meyer-Kellers Inszenierung also letztlich in der aktiv-imaginierenden Beteiligung: Ungewollt werde ich zum Opfer meiner eigenen Imagination und damit zur eigentlichen Täterin, die das Grausame des Geschehens erst hervorbringt. Ich produziere selbst, was mich erschaudern lässt – und ich habe zugleich eine perfide Freude daran. Die Performerin hingegen kann ungeniert in eine Kirsche beißen und sich den Saft von den Fingern wischen, bevor sie zur nächsten Kirsche greift.

(1) Hoops, Thorsten: Der sichere Tod - Mal anders, in: Ruhr Nachrichten, 2005. Online einsehbar unter http://www.evamk.de/daten/texte/ruhr.html [Stand 29.09.2014].
(2) Etchells, Tim: »In einer Hinsicht niemals anders und in anderer Hinsicht niemals gleich«, in: Politik der Vorstellung. Theater und Theorie, hrsg. v. Joachim Gerstmeier und Nikolaus Müller-Schöll (= Recherchen 36), Berlin 2006, S. 163.
(3) Wihstutz, Benjamin: Theater der Einbildung. Zur Wahrnehmung und Imagination des Zuschauers (= Recherchen 43), Berlin 2007, S. 16.
(4) Vgl. ebd., S. 10.
(5) Ebd., S. 11.
(6) Vgl. ebd.
(7) Ebd.
(8) Hier zeigt sich das Grundprinzip des Figuren- und Objekttheaters in besonders ironischer Weise: Der eigentlich tote Gegenstand muss erst (mehr oder weniger mühevoll) belebt werden, um ihn sterben lassen zu können.
(9) Vgl. Fischer-Lichte, Erika: »Perzeptive Multistabilität und ästhetische Wahrnehmung«, in: Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, hrsg. v. Erika Fischer-Lichte, Barbara Gronau, Sabine Schouten und Christel Weiler (= Recherchen 33), Berlin 2006, S. 129-139, hier S. 132. In der Ordnung der Präsenz wird der Leib bzw. das Ding demnach vornehmlich in seinem „phänomenalen Sein“ wahrgenommen, während in der Ordnung der Repräsentation der Fokus auf die Zeichenhaftigkeit des Wahrgenommenen gelegt wird. Vgl. ebd., S. 134f. (10) Vgl. Scarry, Elaine: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt a.M. 1992, S. 62ff.
(11) Ebd., S. 44.
(12) Vgl. ebd., S. 43f.
(13) Vgl. ebd., S. 259.
(14) Vgl. Overlach, Fabian: Sprache des Schmerzes - Sprechen über Schmerzen: eine grammatisch-semantische und gesprächsanalytische Untersuchung von Schmerzausdrücken im Deutschen (= Linguistik – Impulse & Tendenzen 30), Berlin 2008, S. 11f.
(15) An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass hier im Zuge der Analyse theoretische Differenzierungen vorgenommen werden, die sich im Moment der Aufführung schwer bis gar nicht trennen lassen. So sind es vermutlich Zeiträume im Sekundenbereich, in denen sich die beschriebenen Momente der körperlichen Reaktion bzw. der Kontextualisierung abspielen.
(16) Vgl. Schaub, Miriam; Suthor, Nicola: »Einleitung«, in: Schaub, Miriam/Suthor, Nicola/Fischer-Lichte, Erika (Hrsg.): Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, München 2005, S. 9-21, hier S. 9.
(17) Fischer-Lichte: »Zuschauen als Ansteckung«, in: Ebd., S. 35-50, hier S. 49. Von den im Theaterkontext üblicherweise herangezogenen Konzepten der Katharsis und der Einfühlung wollen Fischer-Lichte, Schaub und Suthor die Ansteckung abgegrenzt wissen; seien die ersten beiden doch stark intellektgeleitet und zielgerichtet (die Katharsis zielt auf eine positive Reinigung ab, die zur Heilung führen soll; die Einfühlung soll vor allem dem besseren Nachvollzug der dramatischen Figur, also letztlich der Erkenntnis dienen), während die letztere sich gerade durch ihre vorbewusste, unmittelbar körperliche Reaktion auszeichne. - Vgl. Fischer-Lichte: Zuschauen, S. 49 sowie Schaub/Suthor: Einleitung, S. 9.
(18) Vgl. ebd., S. 44f.
(19) Vgl. ebd., S. 35 und S. 45.
(20) Vgl. ebd., S. 46f.
(21) Vgl. dies.: Perzeptive Multistabilität, S. 129 und S. 138f.